[English version below.] Die Bahn, die zum Friedhof fährt, fährt weiter nach Stammheim. Das Wort klingelt im Ohr; lange nicht gehört. Es blättert ein ganzes Album verblasster 1970er Jahre Kindheitserinnerungen auf. Braune Cordhosen, beige-grüne Häkelweste, jungenhafte Kurzhaarfrisur; weißer Ford mit silberner Stoßstange, rote Kunstledersitze, ich mit meinen drei älteren Geschwistern hinten. Schwarz-weiße Fernsehbilder, RAF, Schleyer-Entführung,…
Read Moremüssen
Das Wort müssen – ich muss, du musst, er/sie/es muss, wir müssen, ihr müsst, sie müssen – ist eines der meist verwendeten Worte der deutschen Sprache, insbesondere in ihrem öffentlichen Gebrauch. Der Bereich der politischen Rede kommt kaum ohne das Wort müssen aus, und auch in Ansprachen, Interviews, Statements von Leuten aus der Wirtschaft, dem…
Read MoreParadisus. The Cemetery Project.
[English version below] Als ich mich vor einiger Zeit aufgrund eines plötzlichen Todesfalls in der Familie auf dem Friedhof von Venedig wiederfand, begann für mich die Beschäftigung mit einer Thematik, die auf den ersten Blick etwas morbide erscheinen mag. Anfangs war es nur die venezianische Friedhofsinsel San Michele, die mich in ihren Bann zog und…
Read MoreWilder Thymian. Portbou
[English version below.] Walter Benjamins Aktentasche wurde nie gefunden. Das angeblich enthaltene Manuskript gilt als verschollen. Zeuginnen berichten, er habe die braune Ledertasche keine Sekunde aus den Händen gelassen während der beschwerlichen Wanderung auf dem alten Schmugglerpfad von Frankreich über die spanische Grenze nach Portbou. Was der Nachwelt bleibt sind Mutmaßungen und Spekulationen ohne handfeste…
Read MoreDie letzten Stunden Walter Benjamins. Zeuginnenberichte. Portbou
Die wörtlichen Zitate sind entnommen aus: Erdmut Wizisla: „Begegnungen mit Walter Benjamin“, Lehmstedt Verlag Leipzig 2015. Walter Benjamin starb, dem Totenbuch der Gemeinde Portbou zufolge, am 26. September um 22 Uhr im Alter von 48 Jahren und wurde am 28. September 1940 begraben. Auf ihrem Fluchtweg über den Coll de Rumpissar begegnete die Gruppe von…
Read MoreSchneckensommer
Was für ein Sommer! Es regnet und regnet und regnet. Über Wasserknappheit brauchen wir uns in Süddeutschland in diesen Monaten nicht zu beklagen. Die Regentonnen laufen über. Aus den Gullideckeln quillt das Wasser. Die Wiesen verwandeln sich in vollgesogene Schwämme, die unbefestigten Wege in Schlammpisten. Es plätschert, trommelt, pladdert und plätschert. Und wenn der Regen…
Read MoreBevölkerung statt Volk
Was machen wir jetzt bloß? Wie werden wir diese Typen und die miese Stimmung, die sie verbreiten, wieder los? Gemeint sind die Rechten, die mit dem rechts-politischen und rechts-populistischen Spektrum Sympathisierenden, die Neonazis und AfDler:innen, die Lautstarken, die andauernd „das Volk“ sagen, die Trumps dieser Welt und die mit ihnen Fraternisierenden, all die Miesmacher und…
Read MoreWarum gendern?
Es ist einer dieser extrem heißen Sommertage. Das Außenthermometer an der Hauswand misst 34 Grad im Schatten. Nicht eine Regenwolke weit und breit. Am Lindenbaum vor meinem Fenster regt sich kein Blättchen. Die Luft steht still. Man selbst tut ebenfalls gut daran, sich still zu verhalten. Schnelle Bewegungen vermeiden. Drinnen bleiben und nichts denken oder…
Read MoreIst das da draußen „die Natur“?
Morgens um fünf, ich liege wach. Es braucht nicht viel, um den letzten Schleier Schläfrigkeit zu lüften, der mich noch trennt vom Tag. Mein Dämmerzustand um die Uhrzeit ist dünn wie Chiffon. Im Hühnerstall hinter dem Haus kräht der Hahn. Auch du, Gockel. Der schwarze Hahn, der meinem Schlaf den Dolch ins fadenscheinige Gewand sticht,…
Read MorePionierin für den Frieden: Bertha von Suttner
Kurz nachdem im Februar dieses Jahres der Krieg um und in der Ukraine ausbrach, fing ich an, die Bücher der Friedensnobelpreisträgerin von 1905 Bertha von Suttner zu lesen. Zuerst die umfangreichen Memoiren, danach ihren Beststeller „Die Waffen nieder!“. Letzteres wurde 1889 veröffentlicht und beschreibt den Leidensweg einer österreichischen Frau in der Mitte des 19. Jahrhunderts.…
Read MoreVirtuelle Realitäten
In einer Münchner Kunstgalerie gab es kürzlich ein Virtual-Reality Projekt zu sehen bzw. zu erleben. Zusammen mit einer zweiten Person konnte man in eine digital gestaltete Landschaft eintauchen und dort sowohl miteinander interagieren als auch in Wechselwirkung zu der sichtbaren Umgebung treten. Meine Erfahrungen mit Datenbrillen sind etwas veraltet und stammen aus der Zeit der…
Read MoreWeihnachtskantate 2021 – Noch eine verborgene Sängerin
Der iranische Filmemacher Jafar Panahi und seine Tochter, die Schauspielerin Solmaz Panahi, sitzen im Auto und warten auf eine Freundin der Tochter, mit der sie verabredet sind, die Theaterproduzentin Shabnam Yousefi. Sie wollen zusammen in ein kurdisch-iranisches Dorf fahren. So beginnt der Kurzfilm Hidden, auf deutsch Die versteckte Stimme, aus dem Jahr 2020. Ausgangspunkt der…
Read MoreDie verborgene Sängerin, vorerst letzte Folge (30)
Ein großer leerer Platz vor einer großen leeren Stadt. Vor einem Jahr noch empfand ich die ungewohnte Leere und Abwesenheit von städtischer Betriebsamkeit faszinierend, wohltuend sogar. Etwas atmete erleichtert auf in globalen Dimensionen, etwas schien zur Ruhe zu kommen, sich neu besinnen zu wollen. Auf der Theresienwiese wuchsen Palmen. Der Himmel war ein von Kondensstreifen…
Read MoreMenschen und Knospen (29)
Nie waren wir den Pflanzen ähnlicher als in diesem noch jungen Jahr. Das gesellschaftliche Gewebe vegetiert vor sich hin. Die Verständigung darüber, dass wir soziale Wesen sind funktioniert gerade irgendwie unterirdisch. Oder durch die Luft, den digitalen Äther. Woche um Woche vergeht. Schon ist es Mitte März. Man möchte aufblühen, raus aus der engen Hülle,…
Read MoreIn Lüften reiche Schätze (28)
Nunc lege, nunc ora, nunc cum fervore labora.Nunc contemplare,nunc scripturas meditare.Nunc etiam pausa,ne mortis sit tibi causa! (Mittleralterliche Ordensregel) Bald lies, bald bete,bald arbeite mit Eifer.Bald betrachte,bald meditiere die Schrift.Bald halt auch inne,damit du dir nicht den Tod holst! Süßer, zu süßlich künstlicher Geruch nach Fruchtaromen zieht uns in die Nasen. Zwei junge Frauen rauchen…
Read MoreDas zweite Jahr (27)
Wir blinzeln in die Sonne, ein Tag wie Frühling, aber es ist noch kein Frühling. Acht Wochen verschärfter Lockdown liegen hinter uns, bald zwei Monate geschlossene Gesellschaft, und niemand kann sagen, wann der Ausnahmezustand enden wird. Franz und ich treffen uns zum ersten Spaziergang im neuen Jahr am Münchner Gasteig. Das dortige Lokal „Gast“ musste…
Read MoreDie verborgene Sängerin (26.1)
„Für Menschen heißt Leben – wie das Lateinische, also die Sprache des vielleicht zutiefst politischen unter den uns bekannten Völkern, sagt – soviel wie ‚unter den Menschen weilen‘ (inter homines esse) und Sterben soviel wie ‚aufhören unter Menschen zu weilen‘ (desinere inter homines esse).“ (Hannah Arendt in „Vita activa“) Möchte man in diesen Tagen Anfang…
Read MoreDie verborgene Sängerin (26.2)
Der Nymphenburger Kanal ist von einer dünnen Eisschicht bedeckt, nur unter den Brückenbögen und im großen Brunnenbecken vor dem Schloss bewegt sich die Wasseroberfläche dunkel. Die dort reglos in sich eingeschnabelten Schwäne sehen von Weitem wie flache Schneehaufen aus. Vor ein paar Tagen hat es schon einmal geschneit, nicht viel. Die Wege im Park sind…
Read MoreDie verborgene Sängerin (25.1)
„Denn Humus ist die Basis unseres irdischen Lebens, er ist buchstäblich sein Anfang und sein Ende, er entsteht durch Leben, und Leben entsteht durch ihn. Er ist der vielfältigste, verworrenste, erstaunlichste, weiseste und zugleich primitivste Ausgleich zwischen den unzähligen Gestaltungen und den noch unzähligeren Bedürfnissen des Lebens. Er ist die unablässige Verwandlung des Zustands, den…
Read MoreDie verborgene Sängerin (25.2)
In ihrem vor genau hundert Jahren veröffentlichten Zukunftsroman „Die Feuerseelen“ beschäftigte sich Annie Francé-Harrar bereits mit der Umweltzerstörung durch mangelnde Ressourcenwirtschaft. Sie war eine frühe Öko-Kassandra, aber eine, die es nicht bei Warnungen beließ, sondern zugleich über Lösungen nachdachte und an deren Umsetzung mitwirkte. Nach dem Tod ihres Mannes setzte sie die gemeinsame Arbeit unermüdlich…
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