Glasscherbenviertel, rote Hochburg, Arbeiterviertel wurde die Gegend genannt. Früher einmal, wann war das? Obergiesing, das Aschenputtel oben am Berg, hat eine revolutionäre Vergangenheit. Hunderttausend Trauernde sollen bei der Beerdigung des Anführers der Novemberrevolution und des ersten und ersten ermordeten Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern, Kurt Eisner, zum Ostfriedhof durch Giesing marschiert sein. Von einer McDonald`s Filiale zur anderen müsste man gehen, würde man das heute nachmaschieren, vom Fußballstadion zur Aussegnungshalle. Obergiesing, das ist jener Stadtteil, in dem die Münchner Löwen zuhause sind, Sechzger genannt, München 1860, „Münchens große Liebe“. Jener Stadtteil, in dem Franz Beckenbauer geboren wurde, und wo er mit dem Fußballspielen als Kind begann. Mit zwölf wollte er bei 1860 kicken, eine Ohrfeige von der Hand eines 13-jährigen Löwen-Spielers vereitelte den Plan. Beleidigt wandte sich Beckenbauer dem FC Bayern zu. So geht die Mär. Die großen Zeiten der Sechzger sind vorbei, das dicke Geld regiert schon lange auch die Fußballwelt. Aber „echte Liebe kennt kei Liga net“, mit solchen Sprüchen wirbt in Giesing die amerikanische Burgerkette. Ausgerechnet hier, in der Martin-Luther-Straße 26, eröffnete vor 49 Jahren der erste McDonald`s Deutschlands!
Ein Freund, der sich von seinem kleinen Erbvermögen vor 30 Jahren eine 60 Quadratmeterwohnung ohne Balkon in der Edelweißstraße kaufte, behauptet seit 30 Jahren, Giesing würde das neue In-Viertel werden. Irgendetwas bewahrt jedoch das ruppige, grattlige, raue, ungeschönte Giesing davor, ins Rampenlicht der Angesagtheit zu rücken. Vielleicht sind es der erste McDoof und der gefühlt letzte Wienerwald, die vor dem 60er Stadion dem Ausverkauf Obergiesings unbeirrt im Wege stehen. Vielleicht sind es die Löwen-Fans, vielleicht der steile Giesinger Berg und der lange Nockherberg. Touristen und Auswärtige klimmen selten diese Steigungen empor. Man gerät ins Schwitzen bis man oben angeradelt ist und kein E-Bike besitzt. Franz hat die Jeansjacke ausgezogen und sitzt im Hemd auf der Bank bei der Tela-Post. Die Tela-Post ist ein schlichter weißer kubischer Bau im Stil der klassischen Moderne. Denkmalgeschützt. Tela von Tegernseer Landstraße. Solcherart sind die Liebesbeweise der Giesinger, sie geben ihren Postämtern und Fußballvereinen Kosenamen.
Nahe bei der Post befindet sich die ehemalige Zweigstelle der Stadtbibliothek. Nach dem Umzug der Bibliothek in ein neues Haus wurde das alte Gebäude einem Künstlerkollektiv zur Zwischennutzung zur Verfügung gestellt. Fast ein Jahr lang fanden Ausstellungen, Konzerte, Lesungen, Workshops und samstägliche Flohmärkte statt. Künstler und Künstlerinnen, junge Leute, Subkultur gelten in der Stadtsoziologie als Vorprogramm der Gentrifizierung, als die ersten „Invasoren“, die bürgerliche Mittelschichten in ein Viertel locken, es für jene interessant machen und das Wohnen dort begehrt. Fatale Dialektik des Verborgenen, das kein Verborgenes mehr ist, sobald es vom Scheinwerferlicht beleuchtet wird. Verweile doch, du bist so schön? Jedes Geheimes, das zum Geheimtipp wird, geht einen Pakt mit dem Teufel ein. Der Zauber, der die Leute ins Quartier lockt, verpufft, sobald die Mieten steigen.
Im Fall der ehemaligen Stadtbibliothek verstand man die spröde Magie des Ortes zu bewahren. Die Türen öffneten sich und bald waren diejenigen, die sonst auf den öffentlichen Bänken vor der Post und vor der Bücherei im Freien saßen die Invasoren. Das Wort Invasoren gefällt mir nicht, die ganze kriegerische Denke, die darin einhergeht. Noch einmal: Die Türen öffneten sich. Junge und Alte schauten herein, Kunstinteressierte und Neugierige, Heraufgeradelte und Leute aus der Nachbarschaft. Für einige Monate Zwischenzeit entriss die Kunst hier ihre Daseinsberechtigung dem Markt, war anarchisches Ritual, Soziale Plastik, lebendiger Organismus, zog ihren Sinn und Zweck daraus, Gemeinschaft zu ermöglichen. Beloved Community, eine Formulierung von Martin Luther dem Späteren, King.
Einer der täglich wiederkehrenden Gäste im Zwischennutzungsprojekt war ein leicht gebeugt gehender weißhaariger Mann mit vernuschelter Aussprache, in Kleidungsstücke gekleidet, die bessere Zeiten gesehen hatten, wie der Mann selbst sicher auch. Er trug stets eine Plastiktüte bei sich oder auch zwei. Darin befanden sich verschiedene Papiere, Mal- und Schreibblöcke im DIN A4 Format. Bei jeder Veranstaltung, die er besuchte, und er besuchte fast alle, saß er auf einem der Klappstühle in einer hinteren Reihe, einen Block auf den Knien und malte, schrieb und kritzelte mit Kugelschreiber eine Aufzeichnung dessen, was er hörte und sah. Bei flüchtiger Betrachtung wirkten diese Aufzeichnung wie die Versponnenheiten eines Menschen, der die Überfülle an Eindrücken, Informationen, Gehörtem, Gespürten und Gesehenem nicht anders zu verarbeiten und zu ventilieren wusste, als durch unausgesetztes vor sich hin Kritzeln. Der Mann war ein lebender Seismograph, nur zeichnete er keine Schwingungsfrequenzen auf, sondern Bilder, Köpfe, Worte in einem nicht mehr zu entwirrenden graphischen Beziehungsgeflecht.
Ich war im Rahmen des Projekts zu einer Lesung eingeladen. Während ich meine Texte vortrug, saß der Mann wie gewohnt im Publikum, sein Kugelschreiber wanderte übers Papier. Ich wollte unbedingt sehen, was er gezeichnet hatte. Erst spät am Abend bot sich die Gelegenheit, ihn anzusprechen. Er zog den Block aus der Plastiktüte, blätterte durch die Skizzen früherer Veranstaltungen und hielt mir das Blatt der Lesung hin. Es war über und über bedeckt mit blauer Kugelschreibertinte, Wörter aus meinen Texten, Gesichter, Schattierungen, Augen. Alles überlappte sich, ging ineinander über in unglaublicher Dichte, Fülle und zugleich Präzision. Ich wünschte, ich hätte das Bild damals fotografiert. Denn eines der Gesichter zeigte mein eigenes Gesicht. In der wilden Choreographie der Striche erkannte ich mich. Es war ungeheuerlich. Das ganze Bild war ich, war ein Porträt von mir. Ich fühlte mich gesehen, gewusst, erkannt, mein wirkliches Ich, auf eine Weise, die sich nicht beschreiben lässt. Der Mann war ein Seher, ein Medium, ein Künstler ältester Schule. Was für ein beglückendes und intimes Geschenk! Wie der Moment, in dem die Fee dich mit ihrem Sternenstab berührt und Lebensnerven trifft, und deine innerste Wahrheit plötzlich sichtbar wird.
Fotos: Franz Kimmel