Wir sind zurückgekommen, noch einmal den Giesinger Berg hinauf, noch einmal zum Stadion. Die Eingangstore zeigen sich verschlossen, das Publikum hat Hausverbot. Im Herbst der Pandemie verlieren die Bäume bereits ihre Blätter, der Fußball rollt vor leeren Rängen, der Rasen ist weiterhin grün. War es ein Fehler, zweimal in Folge denselben Ort aufzusuchen? Ich wollte genauer schauen und nicht gleich weiterziehen. Ab dem dritten Mal wird es gefährlich, wie beim dritten One Night Stand mit derselben Person. Man beginnt Gefühle zu entwickeln. Man möchte eine Beziehung aufbauen, sich vertiefen, einlassen, sogar sich verlieren, wie der Baum seine Blätter, um bei der nächsten Frühjahrsgelegenheit wieder aufzublühen. Man möchte als das, was man zu werden im Begriff ist, bemerkt werden. In Giesing schaut die Stadt zum ersten Mal auf uns zurück, auf Franz und mich. Nichts von dem, was man tut, bleibt folgenlos, soll das wohl heißen. Zum ersten Mal sind wir auf unserer Suche in einen Stadtteil geraten, der Gesang im Namen trägt. Ich bin verwirrt. Sing, raunt Obergiesing mir ins Ohr, sing! Und am Ende sucht man immer nach sich selbst.

Foto_by_Franz-Kimmel

Hatte ich Obergiesing zuvor grattlig genannt, rau, ungeschönt? Dann lohnt es wahrhaftig, noch einmal genauer hinzusehen. Im stillen Abseits der Giesinger Hauptverkehrsadern stoßen wir auf ein städtebauliches Juwel. Eine weitläufige Wohnsiedlung entlang baumbestandener kopfsteingepflasterter Straßen, hohe Ahornbäume, Kastanien, Linden, die Häuser viergeschossig, nach der Sonne gerichtet, die Sprache der Architektur klar, geradlinig, offen, großzügig und licht. Bauhaus des Südens.

Die Frau, deren Namen die Siedlung zwar nicht trägt, die jedoch maßgeblich deren Entstehen beeinflusste, heißt Hanna Löv. Architektin und Beamtin des städtischen Bauamts. Sie war die erste Frau in München, die 1928 als Beste ihres Jahrgangs die Prüfung für den staatlichen höheren Baudienst ablegte, und die erste weibliche Regierungsbaumeisterin Bayerns. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts war bezahlbarer Wohnraum in München knapp bemessen, ähnlich wie heute. Die Stadt legte eine großes Siedlungsbauprogramm auf. Hanna Löv gewann mit ihrem Entwurf den Architektur- und Planungswettberwerb für die „Stockwerksiedlung am Walchenseeplatz“. Bauherr und Vermieter war im städtischen Auftrag die Gemeinnützige Wohnungsfürsorge AG, kurz GEWOFAG. Die gibt es immer noch. Für deren damaligen Leiter Karl Sebastian Preis war Kunst am Bau ein wichtiger Bestandteil der Wohnqualität. Er ließ Skulpturen, Fresken und Reliefs an den Fassaden anbringen. 1933 wurde er von den Nationalsozialisten seines Amts enthoben. Was mit Hanna Löv im und nach dem Dritten Reich geschah, konnte ich noch nicht herausfinden. Sie starb 1995.


In den großzügigen Innenhöfen weht die frisch gewaschene Wäsche an den Leinen in der Sonne. Wer das Wäschelied der Oberammergauer Band Kofelgschroa kennt, weiß was ich meine, wenn ich sage, wie schön das ist. Wo kann in einer deutschen Großsstadt die Wäsche schon draußen hängen und im Freien flattern? Ich fühle mich in meine Genossenschaftswohnungskindheit zurückversetzt. Meine Kindheit im geschützten grünen Innenhof. Aus den Fenstern sahen Mütter und Väter heraus, die ein Auge auf alle Kinder hatten, nicht nur auf die eigenen. Sie ließen uns toben und spielen, wir durften Kinder unter Kindern sein, in unseren Spielen waren wir aufgehoben, versorgt und geborgen. Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen, lautet ein afrikanisches Sprichwort. Am Walchenseeplatz wurde das übersetzt in zeitlose Architektur. Zeitlos, weil es eine Architektur ist, die Menschen in sozialen Zusammenhängen begreift und sie für fähig befindet, gute Nachbarn zu sein. Das hat seine Aktualität und Attraktivität und seine bittere Notwendigkeit bis heute nicht verloren. Gemeinschaft, beloved community, ist der wahre Luxus dieser Tage. Aller Tage.



„Und wer seid ihr, was macht ihr?“ Wir sind gemeint, der Franz und ich. Wir wurden beim Schlendern erwischt. Eine hellhaarige, nasengepiercte Frau mittleren Alters spricht uns lachend an. Mit dem anonymen Spazierengehen ist es vorbei. Sie hatte gehofft, wir kämen wegen der Balkone. Balkone haben die Wohnungen keine. Nein, deswegen sind wir auch nicht hier. Sie erzählt, sie sei schon viel herum gekommen in München und in der Welt. Zuletzt wohnte sie mit ihrem Mann, der Niederländer ist, in Schwabing, seit einigen Jahren in Giesing. „Die Nachbarn“, sagt sie, „haben uns beim Einzug spontan geholfen. Und im Wohnblock nebenan wohnen Senioren, die haben uns Kaffe und Kuchen vorbeigebracht. So ist das hier.“ Sie zeigt uns den Sushi-Imbiss, der sich einen Laden mit der Lottoannahme teilt, den Italiener mit den kleinen Tischen im Hof, den Wohnblock für die Seniorinnen und Senioren.

Wir plaudern, die nette Frau hat keine Eile, es geht eine ansteckende Zufriedenheit von ihr aus. Die Krisen der Welt machen für ein Weilchen Pause. Irgendwann verabschieden wir uns, und sorry noch mal wegen der Balkone. Beim Nachbarschaftstreff um die Ecke stapeln sich hinter einem Mäuerchen Autoreifen, die auf den ersten Schnee warten, ordentlich zur Montage mit gelber Kreide markiert, HL, VR, hinten rechts und vorne links. Im gegenüberliegenden Park genießt eine genußfähige Person auf dem mitgebrachten Liegestuhl die Altweibersommerwärme. Das junge Herbstlaub raschelt unter unseren Schuhsohlen. Schön ist es hier, finden wir beide, Franz und ich, und Obergiesing raunt leise in meinen Ohren. Sing!

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Fotos: Franz Kimmel

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