In der Mondstraße ist der der Auer Mühlbach auf einmal wieder da, ein kurzes bezauberndes Bachstück lang. Sind wir noch in München? Grachten, innerstädtische Wasserstraßen, Venedig, Amsterdam kommen in den Sinn. (Weiter hinten im Text wird mir das wie eine Vorahnung erscheinen.) Dann folgen Franz und ich nicht länger dem Bachlauf, sondern einer Einladung zum Nachmittagskaffee, steigen eines der Stiegenhäuser des „Isarblocks“ hinauf, klingeln an einer der Wohnungstüren, deren Gucklöcher ins Holz eingearbeitete Krönchen zieren. So sieht es also im Inneren der sagenhaften Münchner Wohnsiedlungen der 1920er Jahre aus. Architekt: Helmuth Wolff. Baujahr: 1927. Die gesamte Wohnanlage steht unter Denkmalschutz, schon lange aber nicht mehr unter genossenschaftlicher Verwaltung. Sabine K., Sprecherin und Spracherforscherin, Atem- und Stimmfachfrau, wohnt im obersten Stock.
Sämtliche von Sabines geplanten Lesungen sind abgesagt. Die Inzidenzwerte! Die österreichische Künstlerin Maria Lassnig soll einmal bemerkt haben, das Wichtigste für einen Künstler sei es, die Zeit zu verschwenden. Wohlan, verschwenden wir, die Inzidenzen geben Gelegenheit dazu. Im Innenhof bei Espresso und süßen Bissen sitzend, blicken wir auf hohe Kastanien und eine alte große Trauerweide, auf Wäscheleinen, Sandkasten, Kinderspielzeug und abgestellte Fahrräder, auf Nachbarn, die ebenfalls ihre Nasen in die Sonne halten, auf den eigenwillig aufwendigen Fassadenputz ringsum, Art-déco-Grün zur Straßenseite, zart Gelb im Innenhof, schauen einem maronibraunen Eichhörnchen zu, wie es an der Regenrinne die Hauswand hinaufhuscht, vier Stockwerke Senkrechtspurt bis unters Dach. Oben wartet vielleicht vor einem der Fenster eine zutraulich hingelegte Nuss im Blumentopf. Ja, vergeuden wir die Zeit, und mit ihr alle Zielstrebigkeit, die uns zwänge, gleich wieder aufzubrechen und weiterzugehen. Bleiben wir sitzen. Horchen wir ein wenig, was die alten Bäume flüstern, folgen mit den Gedanken den wellenförmigen Bewegungen im grobkörnigen Fassadenputz.
Der 1895 in Berlin geborenen Helmuth Wolff studierte Architektur in München und arbeitete seit 1919 als Architekt. Seine Frau, Anne Marie Koller-Wolff, war gelernte Fotografin. Später nannte sie sich nur noch Annemie Wolff. Später in Amsterdam. 1930 flüchteten die Wolffs in die Niederlande, Helmuth kam aus einer jüdischen, Annemie aus einer katholischen Familie. In Amsterdam richteten sie in der Rivierenbuurt ein Fotostudio ein und brachten die Zeitschrift „Kleinbeeldfoto“ zum Thema Kleinbildfotografie heraus. Prinz Bernhard, Vater der niederländischen Königin Beatrix, war einer der Abonnenten. Sie machten Werbeaufnahmen, Mode, Essen, Aufnahmen vom Hafen und Flughafen, vom Leben an den Kais, den Arbeitern, Schiffen, Flugzeugen, Stadt und Leuten. Sie unternahmen Reisen nach Paris, Algerien, Marokko, Ägypten und brachten eindrucksvolle Bilder mit zurück. Sie hatten begonnen, sich ein neues Leben aufzubauen. Als im Mai 1940 die Deutsche Wehrmacht in den Niederlanden einmarschierte, begingen Helmuth und Annemie Wolff gemeinsam Suizid. Man fand sie bewusstlos in ihrer Küche, der Gasherd aufgedreht. Helmuth bereits tot, Annemie konnte gerettet werden. Sie lebte den Rest ihres Lebens allein und kinderlos, arbeitete weiter als Fotografin und starb 1994 mit 88 Jahren.
Damit könnte unser Ausflug von Untergiesing nach Amsterdam beendet sein. Wenn nicht sieben Jahre nach Annemies Tod ein Fotohistoriker, der im Nachlass der Wolffs nach Bildern vom Amsterdamer Hafen suchte, eine Schubladenbox entdeckt hätte, in der sich Hundert feinsäuberlich archivierte Negativrollen befanden. Es waren die Negative von Portraitfotografien aus dem Jahr 1943. Dazu ein Notizbuch mit genauen handschriftlichen Angaben darüber, wen Annemie wann fotografiert hatte. Datum, Name, Adresse, Bezahlung. Die Erbin und Nachlassverwalterin der Fotografin wusste nichts von den Portraits. Annemie hatte nie über den Krieg gesprochen und die Fotos nie erwähnt.
Fotos von Frauen und Männern, Menschen jeden Alters, Babyfotos, Fotos von Kindern, von Paaren, Familien. Die Fotografierten blicken in die Kamera, lächelnd, lachend, ernst, manche sind im Profil aufgenommen. Einige junge Mädchen tragen Krankenschwesterschürzen, einer Schwarzgekleideten mit weißem Spitzenkragen und Stoffblumen auf der Schulter hängt die Zigarette lässig im Mund. Die Gesichter von berückender Lebendigkeit und von einer Nuanciertheit, Brillanz, Weichheit und Tiefenschärfe, die wohl für immer der analogen Fotografie eigen bleiben. Auf der Brust der Frau mit der Zigarette und auf der Brust vieler der Portraitierten heftet ein angenähter Judenstern. Jood steht darauf.
Die Portraits veranlassten den Fotohistoriker zu weiteren Nachforschungen. Was nach ihrem Tod niemand mehr wusste: Annemie Wolff hatte der holländischen Widerstandsgruppe „De ondergedoken Camera“ angehört. Eine große Anzahl der von Wolff fotografierten Personen konnte identifiziert werden. Kontaktpersonennachverfolgung nennt man wohl auch das. Einige der Portraits wurden während der Besatzungszeit als Passfotos für gefälschte Dokumente genutzt. Einige waren letzte Erinnerungsstücke. Einige Fotos wurden aufgenommen nur wenige Tage bevor die Fotografierten deportiert wurden. 2015 eröffnete im Goethe Institut in San Francisco eine Ausstellung mit dem Titel „Lost Stories, Found Images: Portraits of Jews in Wartime Amsterdam.“ Ein Dokumentarfilm entstand, zwei Fotobücher.
Ich blättere im Buch „Studio Wolff, 1943“. So viele Gesichter. Warum hatte die Fotografin die Negative aufgehoben, warum nicht darüber gesprochen? Diejenigen, die in Annemies Fotostudio kamen, mussten großes Vertrauen zu ihr gehabt haben. Man sieht es den Fotos an. Es ist ein liebender Blick, der auf all diesen Gesichtern liegt. Als sehe und suche die Fotografin in jedem der Menschen, die ihr gegenübersaßen, eine Reflexion ihres Mannes und vielleicht auch eine Antwort darauf, weshalb er starb und weshalb sie lebte. Mit Hilfe der Kamera gelang es, wenigstens für einen Augenblick, das gefährdete Leben festzuhalten, seine Schönheit, seinen Glanz, die Möglichkeit einer anderen Zukunft. Die Bilder berühren, was eigentlich zu tief unter dem Wissen um die Vergangenheit versiegelt liegt, weil sie den flüchtigen Moment in der Geschichte Europas bezeugen, in dem jüdische und nichtjüdische Menschen vorbehaltlos einander in die Augen sahen, sich lieben und vertrauen durften. Und es vermochten. Man kann die Portraits nicht ohne ihren Kontext sehen, dafür sorgte die Fotografin, der Kontext ist unauslöschbar eingeschrieben. Die Brutalität der aufgenähten Judensterne und die Freundlichkeit, das Leuchten der Gesichter, beides in einem Bild. Die Fotos laden ein, sie fordern, erzwingen mit sanfter Geste, die Menschen anzuschauen, jeden einzelnen, jede einzelne, sie lange zu betrachten und nicht das angeheftete Label.
Fotos: Franz Kimmel