Gespräch mit der Künstlerin Sybille Loew über ihre Rauminstallation „stiller Abtrag“, über Spuren, die verschwinden, das Sterben ohne Angehörige und ein Bänkchen an einem Grab.

„Sticken ist für mich Zeit und Form gewordene Würdigung.
Sticken braucht Zeit und hinterlässt Zeit.“

(Fotos: Isabella Berr)

Sybille Loew lebt in München und ist seit 1980 künstlerisch tätig. Für ihre Wandobjekte und Rauminstallationen bestickt sie textile und andere Untergründe, Blätter von Pflanzen, Putzlappen, bedrucktes Papier, verschiedenste Gewebe. Mit Nadel und Garn gestaltet sie figürliche Bilder, Textbänder, Skulpturen aus feinstofflicher Materie.
Sybille hat katholische Theologie studiert, ist Kunsttherapeutin und Trauma-Beraterin. Sie leitet die „Münchner Insel“, eine Beratungsstelle am Münchner Marienplatz, mitten im Herz des Stadt München, deren Tür allen Menschen offen steht zur kostenlosen Beratung in Lebenskrisen und Problemsituationen. Ich treffe Sybille, um über ihre Installation „stiller Abtrag“ zu sprechen. Die beeindruckende und zugleich ruhige poetische Arbeit ist dem Sterben von Menschen ohne Angehörige und ihrer oft anonymen Bestattung gewidmet. Sie wurde seit 2005 in zahlreichen Ausstellungen und Städten gezeigt und stieß überall auf große Resonanz. Zuletzt war „stiller Abtrag“ ein ganzes Jahr lang bis August 2024 im Dom Museum Wien zu sehen.

Sybille, du hast dich für deine Arbeit „stiller Abtrag“ intensiv mit dem Tod und dem anonymen Sterben beschäftigt. Wie bist du zu diesem Thema gekommen?

In unsere Beratungsstelle kam einmal eine alte Dame, die sehr arm aussah, es schien ihr peinlich zu sein. Sie trug immer eine Süddeutsche Zeitung unter dem Arm, sprach mit einem tollen Wortschatz, man merkte, sie war eine intelligente Frau, aber irgendwie verarmt. Es stellte sich heraus, dass sie ihre Post und Rechnungen nicht mehr geöffnet hatte. Ich half ihr Einiges zu klären, begleitete sie zum Arzt und habe mich ihrer ein bisschen angenommen und dadurch ihre Lebensgeschichte erfahren, die recht tragisch war. Ich fand die Frau einfach sehr sympathisch. Sie erinnerte mich ein wenig an meine verstorbene Großmutter.
Ihr Mann hatte sich suizidiert aufgrund von Schulden. Die einzige Tochter warf der Mutter vor, es sei ihre Schuld, dass der Vater sich umgebracht habe. Die Tochter wanderte nach Amerika aus, es gab keinen Kontakt mehr zwischen den beiden. Die Frau war also alleine; als ich sie kennenlernte 69 Jahre alt und dabei eine ganz Fröhliche, Hilfsbereite. Von Beruf Fahrlehrerin hat sie die Schulden des Mannes übernommen und ist deswegen völlig verarmt. Sie zahlte die Schulden ab, aber als sie in Rente ging war die Rente zu gering. Sie musste in eine Sozialwohnung, raus aus ihrem vertrauten Viertel. Trotzdem erlebte ich sie immer fröhlich, immer gut gelaunt. Und sie brachte jedes Mal, wenn sie zu mir kam, eine Winzigkeit mit. Obwohl sie ja wirklich fast kein Geld hatte! Mal einen Apfel oder selbstgepflückten Bärlauch. Eines Tages kam sie mit einem kleinen Staniolpapierbündel und packte einen Strauß Gänseblümchen aus, den sie mir reichte. „Den habe ich Ihnen heute mitgebracht“, sagte sie. Dann kruschtelte sie weiter, zog einen zweiten Strauß heraus und sagte: „Den dürfen Sie mir geben. Ich habe heute meinen 70. Geburtstag.“

Das rührte mich so, mir schossen die Tränen in die Augen, weil ich dachte… einerseits diese unglaubliche Einsamkeit – ich war die Einzige, mit der sie ihren 70. Geburtstag feiert – auf der anderen Seite ihre großartige Resilienz zu sagen, hallo, ich habe Geburtstag, ich bringe für mich auch einen Strauß mit und freue mich, bei Ihnen zu sein. Ich habe dann Kuchen geholt, Kaffee gekocht und ein Kerzchen angezündet, und wir haben Geburtstag gefeiert.
Ein paar Monate später erschien sie nicht, obwohl wir verabredet waren. Sie besaß auch kein Telefon. Vielleicht krank, dachte ich. Irgendwann, ich hatte ihre Daten wegen verschiedener Sozialhilfeangelegenheiten, schrieb ich ihr eine Karte und es kam wieder keine Reaktion, hm, komisch, komisch, komisch. Auf Nachfrage beim Sozialamt wurde mir mitgeteilt, die Dame ist verstorben.
Das war für mich der Ausgangspunkt: 70 Jahre Leben und dann ist niemand da… auch keine Geschwister. Außer der Tochter, zu der es keinen Kontakt gab, hatte sie einfach niemanden! Ich dachte, was ist denn mit einem Menschenleben, mit einem Menschen, wenn da niemand mehr ist? Daraufhin fing ich an das Thema zu recherchieren.

Ist „stiller Abtrag“ eine offizielle Bezeichnung für Beerdigungen ohne Angehörige?

Das ist tatsächlich ein offizieller Ausdruck bei den Bestattern, zumindest in Deutschland, für eine Beisetzung, bei der ein Bestatter die Urne, den Sarg allein „abträgt“, also zum Grab trägt. Von Seiten der Landeshauptstadt München gibt es das Städtische Bestattungsamt, dort können sie standesamtliche Dokumente recherchieren, nach Angehörigen suchen, und sie dürfen, je nachdem, wo und wie ein Verstorbener gefunden wird, die Wohnung öffnen. Die schauen, gibt es Vermögen, gibt es Hinterlassenschaften, einen letzten Willen.
Dann rückt ein von der Stadt beauftragtes Entrümpelungsunternehmen an und in einer Stunde ist alles ausgeräumt. Ein ganzes Leben! Alles, was wertlos ist, wird zusammengeklopft, Bücher, Fotoalben, alles kommt in den Container und wird weggeworfen. Wenn etwas Wertvolles dabei ist, wird es zum Wiederverkauf gegeben. Das heißt, da wird ein Leben innerhalb von ein, zwei Stunden entsorgt, zumindest die äußeren Dinge – das hat mich so bewegt. Und dieses Lachen, dieses bezaubernde Lachen meiner Klientin, die so schön, so toll erzählen konnte, ihre liebenswerte Art, immer eine winzige Geste der Dankbarkeit, ihre kleinen Mitbringsel… – ich dachte, es wäre schön, wenn das einen Ausdruck findet.

Gibt es in solchen Fällen auch keine kirchliche Begleitung?

In München wird die Beisetzung in einer Anzeige vom Friedhof veröffentlicht. Wenn jemand katholisch oder evangelisch war, macht in München ein Pfarrer eine kurze Aussegnung und spricht ein Gebet. Wenn Menschen von der Beerdigung erfahren, es gibt ja meistens doch irgendwen, Freunde oder Nachbarn, können sie dabei sein. Sobald Angehörige gefunden wurden, müssen die natürlich zahlen. Werden keine Verwandten gefunden, zahlt die Stadt München, praktisch der Steuerzahler, die Allgemeinheit.
In München bekommen diese Gräber ein Holzkreuz, einen sichtbaren Namen. Ist jemand konfessionslos, wird der Leichnam eingeäschert und die Urne mit Namen in einer Sammelurnen-Nische beigesetzt. Ich habe mir das angeschaut und tatsächlich die Urne meiner Klientin gefunden. Ich hatte sogar eine Privatführung des Direktors des Krematoriums am Ostbahnhof. Das war schon per se sehr spannend. Beispielsweise erzählte er, was nach dem Verbrennen noch in der Asche liegt, der Schlüssel oder Knöpfe oder der Hüftknochen aus Titan.

Was machen die damit, mit den Goldzähnen und solchen Sachen?

Das verwerten sie, das lässt sich sehr gut verkaufen. Titan ist hochwertiges Material. Die Asche wird noch einmal gesiebt, bevor sie in die Urne kommt.

Wird das überall in Deutschland auf die gleiche Weise gehandhabt?

Ich habe die Ausstellung an sehr vielen Orten gezeigt und jedes Mal auch vor Ort recherchiert, in Hannover, in Bamberg, Augsburg, Wien. In Großstädten gibt es natürlich eine größere Menge einsam Gestorbener. Das Bestattungsamt prüft beim Standesamt, ob Verwandte da sind. Sie müssen recherchieren, manchmal auch über Botschaften usw., was lange dauern kann. In München haben sie die Tochter dieser Dame sogar ausfindig gemacht. Die hat trotzdem nicht gezahlt.
In anderen Städten wird das Beerdigen teilweise relativ lieblos gehandhabt.
Als ich 2004 zu recherchieren begann, waren es in München 289 Menschen in einem Jahr, die ohne Angehörige bestattet wurden, fast jeden Tag ein Mensch. In Berlin waren es damals 800 Menschen pro Jahr.
Inzwischen sind das gigantische Zahlen. In Wien waren es 2022 bereits 1500 Verstorbene. Da ist auch das eine oder andere Sozialbegräbnis dabei. Je nachdem, wie eine Stadt die Zahlen erfasst. In Wien sind Begräbnisse dabei, wo es zwar Hinterbliebene gibt, die jedoch nicht bezahlen können. In München werden solche Fälle getrennt erfasst. In manchen Städten finden völlig anonyme Beisetzungen statt, ganz ohne Namen, da kann man hinterher nichts mehr rekonstruieren.

"stiller-Abtrag" von Sybille-Loew

Du hast den Namen von jeder dieser 289 Personen gestickt…

In Münchner Zeitungen heißt es in einer Spalte bei den Todesanzeigen: Wenn Sie Angehörige oder Bekannte folgender Verstorbener kennen, dann setzen Sie sich bitte mit uns in Verbindung. Mit Angabe des Sterbedatums, aller Vornamen und Nachnamen und des Alters. Ich habe diese Namen gesammelt und ganz naiv gedacht, da kommen vielleicht dreißig Schilder zusammen, aber es waren fast dreihundert. Ich hatte die Assoziation von Schildern, die den Leichen früher aus Karton an den Zeh gebunden wurden. Erinnert auch an Kofferschilder.
Solche Schilder habe ich genäht, doppelseitig mit Stoff, mit einer Öse versehen. Das Sterbedatum und das Alter habe ich mit schwarzem Garn gestickt, den Namen mit rotem Faden. Aus den Buchstaben des Namens kommen auf der Rückseite ganz lange Fäden, die über das Schild hinausragen. Das kann man wie einen Blutstrom, einen Lebensfaden sehen, Fäden, die eben in der Luft hängen. Nach oben sind die Schilder an der Öse aufgehängt. Sie schweben zwischen Himmel und Erde, diese Toten hinterlassen keine Spuren. Deswegen berühren die Fäden auch nicht den Boden.

Welche Reaktionen gab es in den verschiedenen Städten auf die Ausstellung?

Natürlich erinnern sich viele, die meine Ausstellungen sehen, an ihre eigenen Verstorbenen. Oder sie denken, was ist mit mir, was ist mit meinem Tod, wenn ich sterbe, gibt es da Verwandte, gibt es jemanden?
Ich habe eine ganz spannende Geschichte erlebt, als die Ausstellung in Augsburg gezeigt wurde. Mir schrieb danach ein Mann, der in Augsburg gut vernetzt war. Er schrieb, das sei ja unerhört, was ich für falsche Aussagen mache, was ich für Dinge behaupten würde, dass in Augsburg ganz anonym bestattet werde und es nicht veröffentlicht wird, kein Geistlicher dabei ist, wenn jemand religiös ist….!
Ich habe überall korrekt recherchiert, auch in Augsburg, dort sprach ich mit einer Bestatterin, die mir die Details erzählte. Anonym bedeutete in dem Fall, da wird ein Loch mit einer Maschine in den Grasboden gestochen, da hinein so eine Art Postrolle geschoben, die Urne, anschließend kommt ein bisschen Erde und die Grasnabe wieder oben drauf. Zwei Minuten später siehst du nichts mehr und weißt nicht, ist es hier oder hier. Die schmuckloseste Art. Da könnte noch nicht einmal eine Nachbarin oder irgendwer teilnehmen. Die vom Friedhof vergraben die Urnen, wenn sie gerade Zeit haben.
Ich schrieb dem Mann zurück, das und das sind die Fakten, ich werde mich hüten, etwas Falsches zu behaupten. Nach einer Weile erhielt ich einen großen Entschuldigungsbrief. Er sagte, es täte ihm sehr leid, er wäre so aufgebracht gewesen über diese würdelose Art, ich hätte völlig recht. Er sei schockiert gewesen, dass das städtische Bestattungsamt, zu dem er Kontakte hatte, es so handhaben würde.
Daraufhin hat dieser Mann eine Initiative gegründet. Nun gibt es auch in Augsburg Kennzeichnungen, wo die Urnen liegen. Ich glaube, die haben einen großen Stein, an den Plaketten oder Namen angebracht werden. Ich fand es ganz wunderbar, was die Ausstellung in Gang setzte.

Wer sind die Menschen, die alleine sterben, konntest du darüber mehr herausfinden?

Viele Leute denken, das betreffe nur Obdachlose, „Asoziale“. Überhaupt nicht! Das sind Herr Dr. Soundso und Frau Dr. Soundso, promovierte Menschen, adelige Menschen, Menschen aus allen Nationen, alle Namen, die man sich denken kann, verschiedenste Religionen etc.
In München, wo die Arbeit in der Guardini-Kapelle von St. Ludwig gezeigt wurde, traf ich eine alte Dame, die war schon 96 und erzählte, bis letztes Jahr habe sie sich um eine alte Schulfreundin gekümmert. Sie sagte: „Wir hatten uns sechzig Jahre aus den Augen verloren und wiedergefunden. Eines Tages hat die dann gesagt, nein, sie will das nicht mehr, nein, sie macht die Tür nicht mehr auf, es war so traurig.“ Ich fragte, wie ihre Freundin hieß und erinnerte mich, dass ich den Namen gestickt hatte. Es waren gerade ein paar Leute in der Ausstellung, ich sagte: dürfte ich sie alle um etwas bitten. Ich wusste ja nicht, wo der Name hing unter den fast dreihundert Schildern. Wir fanden ihn. Dann ist die alte Dame dort gestanden, hat den Faden gehalten und zu dem Schild geguckt und Zwiesprache mit ihrer Freundin gehalten. Das war sehr berührend.

Ich habe erst kürzlich mit jemanden darüber gesprochen, welche Spuren man hinterlassen möchte. Oder möchte man überhaupt welche hinterlassen?

Ja, es gibt auch die andere Richtung, mehr buddhistisch. In Indien ist es teilweise so, dass alte Menschen, wenn sie spüren, dass es ans Sterben geht, ihr Zuhause verlassen, insofern sie noch können. Sie ziehen los mit einem Beutel und einem weißen Gewand, gehen zu den Ashrams und legen sich dann zum Sterben hin. Also bewusst zu übergeben an die nächste Generation, zu sagen, ich habe meine Besitztümer verschenkt, ich habe geklärt, was vom Allerletzten übrig bleibt, und wenn ich gehe, hinterlasse ich einen leeren Raum und es ist gut so.
Nichtsdestotrotz kann dieser Menschen ja noch im Herzen der Hinterbliebenen weiterleben. Oft werden die Besitztümer auch von den Nachkommen eher als Qual erlebt, im Sinne von, oh Gott, jetzt musste ich das Haus ausräumen. Im Zuge meiner Recherchen habe ich damals ein schönes Zitat von der Journalistin Gabriele Goettle aus der taz gefunden, die sagte, das eine ist der physische Tod, das andere der sozial einsame Tod. Der übrigens abgemildert werden könnte durch den Hospizverein, der dich begleitet. Mir ging es aber eben darum: Dass viele Menschen vor ihrem eigentlichen Tod schon sozial gestorben sind.

Wie lange stickst du an einem Schild und wie ging es dir während des Stickens? Hast du eine innere Verbindung zu den toten Personen aufgebaut oder dir Geschichten zu ihnen ausgedacht?

Naja, das hängt natürlich auch vom Namen ab. Ich hatte zum Beispiel Aloisia Caecilia Tadelhuber. Bei dem Namen dachte ich, das klingt bäuerlich oberbayerisch, und dann fragst du dich, wie kommt diese Frau nach München? Vielleicht als junge Frau, vielleicht hat sie eine Ausbildung gemacht oder war Köchin oder Haushälterin. Aber dass die dann mit 98 alleine stirbt? Man stellt sich ja vor, sie hatte zehn Geschwister, fünf Onkel und Tanten. Vielleicht gab es einen Verlobten, der im Krieg gefallen ist, vielleicht gab es dann keine Kinder mehr… wissen wir alles nicht.

Wie lange ich sticke? Die Schilder müssen erst genäht werden und das Sticken, mei, eine halbe Stunde braucht es schon, so ein Schild zu sticken. Es ist ein sehr meditatives Tun. Wenn ich dann die Namen sticke, mache ich mir schon Gedanken, natürlich sind das nur meine Fantasien.
Der Jüngste, dessen Namen ich in München gestickt habe, starb mit 30 Jahren. Die Älteste mit 103. Der 30-Jährige, Charles Bienvenue Mahhob, garantiert ein nordafrikanischer – algerisch, tunesisch, marokkanischer – wahrscheinlich Flüchtling, der sicher Familie hat, aber vielleicht hatte er seine Pässe vernichtet oder verloren, die Familie wird es nie erfahren, man kann es nicht mehr rückverfolgen.

Für die Wiener Ausstellung zum Thema „Sterblich sein“ hast du noch einmal neu gestickt. (siehe: dommuseum.at/sterblich-information)

Ja, das war ein Wunsch des Dom Museums. Ich habe allerdings keine 1500 Schilder gestickt (die Toten von 2022), das wäre zu viel gewesen, ich habe stellvertretend 200 ausgewählt und gestickt. Allein von den Namen gab es so viele verschiedene Ethnien, faszinierend. Natürlich habe ich nicht die Herkunft, den Migrationshintergrund der Leute gewusst, aber die Wiener konnten mir sagen, das ist ein slawischer Name, der ist aus Tschechien, der aus der Slowakei oder das klingt ungarisch. Oder auch Mohamed, Suleiman, arabische oder türkische Namen, russisch, ukrainisch, englisch, französisch…
In Wien wurde noch ein kleinerer Raum am Ende der Ausstellung eingerichtet. Angelehnt an meine Schilder wurden aus Karton ähnliche Schilder zum Aufhängen an der Decke gemacht. Darauf konnten die Besucherinnen und Besucher nicht sticken, sondern schreiben, um an tote Menschen zu erinnern. Sei es einsam Gestorbene, die sie kannten, Nachbarn, oder auch an ihre eigenen Verstorbenen. Der Raum war zum Schluss voll mit 8000 Schildern. Da konnte man japanische Schriftzeichen sehen, alle möglichen Sprachen, auf einem stand, Mensch, Papa, du bist viel zu früh gegangen… – von einer erwachsenen Tochter, die traurig war, weil der Vater im Jahr zuvor ganz plötzlich und überraschend gestorben ist. Sie schrieb: ich möchte dir noch mal danke sagen, für alles, was du mir gegeben hast. Eine Altenpflegerin oder Krankenschwester schrieb, ich möchte an die Menschen erinnern, die während der Corona-Krise allein gestorben sind in den Zimmern und Heimen.

Zum Schluss noch eine Frage nach deinen eigenen Toten. Du hattest in einem früheren Gespräch das Grab deines Vaters erwähnt. Magst du davon erzählen?

Mein Vater hatte bezüglich seiner Beerdigung gesagt, wir sollen etwas machen, was für uns stimmig sei, er ist ja dann nicht mehr da. Das fand ich gut. Wir hatten auch durchaus unterschiedliche Vorstellungen. Meine Tochter hätte es schön gefunden, die Asche vom Opa in den Bergen zu verstreuen. Das habe ich ihn noch gefragt, er war so ein Bergfex. Aber da meinte er, och nee, das müsse nicht sein. Nächste Idee, unter einem Baum. Ich erkundigte mich am Münchner Waldfriedhof, doch alle Bäume waren dort belegt, man hätte mehrere Jahre warten müssen. Ja, super, was mache ich in der Zwischenzeit mit meinem Vater?! Dann fiel mir meine Großmutter ein, von uns Urmel genannt. Sie war in Stettin geboren und hatte es erlebt, dass bei einem Bombenangriff im August 1944 alle ihre Angehörigen ums Leben kamen, Mutter, Vater, Schwester, deren Mann und Kinder. Urmel musste sie alle identifizieren, sie wurden auf dem Waldfriedhof in Stettin beigesetzt.
Als meine Mutter und ich 2000 eine Reise auf den Spuren unserer Familie machten, sind wir auch auf den Waldfriedhof gegangen. Die Gräber gibt es nicht mehr. Aber wir fanden es toll, dass vor jedem Grab ein Bänkchen ist, ein kleines Holzbänkchen. Bei uns steht man immer völlig unpassend auf dem Schotterweg vor dem Grab herum. Was mach ich denn da? Ich kann ein bisschen rumpusseln am Grab, stehe unmotiviert rum und dann gehe ich wieder. Daher hatte ich nach dem Tod meines Vaters die Idee zu fragen, ob dort, wo sonst der Grabstein steht, auch eine Bank stehen darf. Die haben gesagt, ja, das darf halt nur die und die Maße haben, aber die Form des Grabsteins wäre sozusagen egal. Jetzt steht am Grab meines Vaters am Münchner Nordfriedhof eine sehr schöne, ganz schlichte Steinbank. Aus Muschelkalk, wegen des Bezugs zu Oberfranken, wo mein Vater lebte. Ein wunderbarer Platz. Ich radle oft in der Mittagspause im Sommer hin, nehme mir eine Brotzeit mit und sitze dort. Oder manchmal lese ich ein Buch und bin einfach nur da, auch nicht nur die ganze Zeit in Verbindung mit meinem Vater… An seinem Geburtstag gehen wir zum Grab und machen Picknick. Freunde kommen mit, wir haben Sekt dabei, italienische Antipasti, ein paar zusätzliche Hocker, damit alle Platz haben. Zwei Leute sitzen mindestens auf der Bank, ja, und das finde ich so schön, da irgendwie zu sein.

… ein Ort der Ruhe…

Ein Ort der Ruhe, der inneren Verbindung mit meinen Wurzeln. Und Leute sehen das und gehen lächelnd vorüber.
Ich habe meinem Vater übrigens auch ein Totenhemd bestickt mit dem Psalm 23, Der Herr ist mein Hirte, das war mir wichtig. Er war ja fast 99, ein absolut gelebtes Leben. Wir haben ihn aufgebahrt, 24 Stunden lang, für meine Mutter und mich ein guter Prozess. Wo man dann auch das Gefühl hat, jetzt wird die Verbindung langsam lockerer, jetzt, jetzt ist er tot. Und wie man so schön sagt, die Seele macht das Fenster auf.

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