Über einen Tanzabend des Münchner Choreografen Stephan Herwig.
„Atme“ – lautet eine Anweisung meiner Osteopathin meist am Anfang der Behandlung. Es geht dabei nicht darum, besonders tief oder angestrengt ein- und auszuatmen. Der Atem soll fließen, wie es so schön heißt, soll im Brustraum zu spüren sein, im unmittelbaren Umfeld der Lungen, auch darüber hinaus, im Bauch und Unterleib, im Rücken, in den Gliedmaßen, im Hals, von den Fußsohlen bis hinauf zum Scheitel. Im Rhythmus der Atmung erfährt der Körper seine Grenzen. Ausweitung, Zusammenziehen, breathe in, breathe out. Doch dabei lässt es meine Osteopathin nie bewenden. „Gehe noch ein wenig weiter über deine Körpergrenze hinaus“, sagt sie. „Stell dir einen transparenten Raum vor, der dich nach allen Seiten hin umgibt. Ein großes Ei, in dem du sicher und geborgen bist und das mit dir atmet.“ Manchmal sagt sie auch, „ein blaues Ei.“ Warum blau, weiß ich nicht.
Im Theatersaal der Münchner Freien Szene „Schwere Reiter“ schimmert das atmende Ei silbern. Seine ebenfalls atmende Außenmembran bildet ein Kreis aus Menschen. Wir Zuschauerinnen und Zuschauer formen den Safe Space, den geschützten Raum, in dessen Mitte die neueste Tanz-Produktion des Münchner Choreografen Stephan Herwig stattfindet. Der übrige Raum im Rücken des auf Stühlen und Kissen sitzenden Publikums ist schwarz.
Der Körper im Inneren des gedachten Eies besteht aus zwei Tänzern in kieselgrauen kurzen Shorts und ebenso grauen Poloshirts. Sie liegen nebeneinander auf dem Boden, der Kopf des einen bei den Füßen des anderen. Direkt über ihnen schwebt ein silbernes, übergroßes, amorphes Objekt. Ein Organ vielleicht, ein überdimensioniert aufgeblasenes Menschenherz. Oder einfach nur eine aluminiumfarbene Wolke, eine Cloud, die das Licht, das auf die Liegenden am Boden fällt, silbrig filtert und reflektiert. Die nackten hellen Arme und Beine der beiden Tänzer sind ineinander verflochten. Die zwei wirken wie Schlafende nach genussvollem Sex im Weltall. Die Hand des einen ruht auf dem Bauch des anderen. Ein berührend intimes Bild. Still, zeitlos, selbstverständlich. Während der folgenden 50-minütigen Performance, die intim bleiben wird, das mögliche Erotische immer nur andeutend, wird mir als Zusehende nie zugemutet, mich als Voyeuristin zu fühlen. Die Performer ruhen vertieft ineinander, sind eins, sind ganz bei sich, einig anstelle von entzweit. Liebende zweifellos. In einer konzentrierten, auf uns Zusehende ausstrahlenden Weise.
Erst nach einer langen Weile beginnen die beiden Körper sich zu regen. Sie gehören zusammen, bilden eine friedliche Laokoongruppe zu zweit, verknoten sich weiter, ziehend und streckend, ringend und sich gegenseitig umkrümmend, sich haltend und abstützend, kraftvoll und doch geduldig darauf bedacht, den anderen keine Sekunde unangefasst zu lassen, stets im gleichen Atemtempo zu agieren. In und durch ihre fast zeitlupenhaften Bewegungen transzendieren sie jegliche Rivalität und jegliches Gegeneinander zugunsten des Miteinander. Als „eine Art Schöpfungsgeschichte“ sieht Herwig denn auch sein aktuelles Stück mit dem etwas sperrigen Titel „BREATHER“.
Atme, werde, lebe
Der begleitende Surround-Sound, der zeitweise aus der silbernen Cloud zu rieseln scheint, tönt selten laut, wie an einem U-Bahnhof, dann wieder dezent und leise, langgezogene Walgesänge, ein Wassertropfen, zwei Tropfen, später eine ausgedehnte Phase der Stille. Das Ringen des zweiköpfigen Tänzerkörpers gilt wohl mehr dem gemeinsamen Aufstehen. Verständlich bei solcher Innigkeit, wer wollte da sofort raus in die Welt und nicht lieber den ganzen Abend verschlungen liegen bleiben.
Die Betonung und Entdeckung des Bodens markiert in der Tanzhistorie die Geburt des modernen Tanzes. Auch das eine Schöpfungsgeschichte. Während das klassische Ballett den Boden und die Erdanziehungskraft zu überwinden sucht, Sprünge und Hebungen einsetzt, um den Eindruck des Schwebens zu erwecken, die Tänzerinnen auf die Fußspitzen zwingt, weg von zu viel Bodenkontakt, stampften die Grandes Dames des Ausdruckstanzes und die Mütter des Modern Dance mit den Füßen und ließen sich fallen. Bei Stephan Herwig sind die Tänzer nun ganz am Boden angekommen, als bräuchten sie nicht mehr aufzustehen, um dennoch tänzerische Gesten auszuführen. Aber sie tun es doch, erheben sich, unendlich langsam. Wissen sie überhaupt, wie das geht: aufrechter Gang? Die Wolke über ihnen lässt zunehmend Luft nach oben.
Es dauert, bis die beiden auf die Füße kommen. Und auch dann stehen sie ineinander verkeilt mit gekrümmten Rücken, tasten, greifen nach dem anderen, probieren aus, geraten ins Schwitzen; eine Lebendskulptur mit acht Beinen, deren Bewegung geheimen Regeln zu folgen scheint, zum Beispiel, dass nur jeweils drei Füße gleichzeitig den Boden berühren dürfen. Dazu begleitet sie, aus dem dunklen Umraum kurz in den Kreis tretend, ein Live-E-Gitarrist. Schöne White Stripes mäßige rotzige Gitarrenriffs! Endlich aber haben sie es geschafft. Da stehen sie zum ersten Mal Face to Face, ganze nahe ohne Körperkontakt, immer noch sich gegenseitig über andere Sinne wahrnehmend, mehr als mit den Augen.
Wieder beginnen sie einander zu berühren, umarmen und umschlingen sich, erkunden den kahlrasierten Kopf des Partners oder das Gesicht, unersättliche Hände, Finger, keine Armbeuge auslassen, sogar beißen ist erlaubt, Zärtlichkeit. Bis zuletzt das Stück zu Ende ist und das Licht ausgeht und – niemand klatscht. Die Tänzer halten sich umfasst, im schwachen Glimmen der Notbeleuchtung ist noch schemenhaft ihre Körpersilhouette zu erkennen. Einatmen. Ausatmen. Minutenlange Ruhe. Breather könnte in diesem Moment auch Prayer bedeuten. Atemgebet für eine Welt (ohne Gewalt), von der wir träumen. Schließlich langanhaltender Applaus und zwei glücklich aussehende Tänzer.

BREATHER – Künstlerische Leitung + Choreografie: Stephan Herwig | Tanz + Kreation: Fabian Riess, Alessandro Sollima | Dramaturgische Beratung: Maxwell McCarthy | Bühnenbild: Mirella Oestreicher | Musik: Ben Meerwein | Lichtgestaltung: Michael Kunitsch | Produktionsleitung: Jan Termin | PR: Beate Zeller