Zu Weihnachten schenkte mir mein Neffe einen QR Code. Mein Neffe arbeitet als Video Editor und hat gerade einen Film fertiggestellt, zu dem mich der QR Code führt: Crying Glacier, weinender Gletscher. Es ist eine fast meditative Dokumentation über den Soundkünstler Ludwig Berger, der in den Schweizer Alpen die Klänge des schmelzenden Morteratschgletschers einfängt und archiviert. Berger versenkt seine Mikrofone in den Spalten des Morteratsch, oft mehrere Meter tief an langen Kabeln. Mit Hilfe der Technik und der wasserfesten Mikros fahndet er nach den verborgenen Gesängen im Inneren der glazialen Eismassen. Berger, was für ein passender Name in diesem Zusammenhang. Nicht nur wegen der Berge, auch wegen des Bergens von Verborgenem. Eigenartige Töne dringen von dort unten herauf und an unsere Ohren. Seufzen, Schmatzen, Pochen, Quietschen, Klopfen, Zwitschern, Klagen. Der Gletscher schwindet. Von Jahr zu Jahr wird er weniger, stirbt einen langsamen Tod. Wir interpretieren die Sounds, die der Gletscher erzeugt, als Weinen. Doch wir sind jung, und der Gletscher alt. Was wissen wir von den größeren Zusammenhängen? Ich meine, den ganz großen, mehrere Millionen Jahre währenden Zusammenhängen. Für wen singt der Gletscher? Er singt vielleicht nur für sich, summt vor sich hin, plappert und hüstelt, ploppt und tröpfelt inkontinent. Der Morteratsch – als wäre er ein Jemand, eine Wesenheit, und nicht ein Kollektiv von Wassertropfen, Spannungs- und Aggregatszuständen, von Mikroorganismen, die im Eis leben, Schneealgen, Gletscherflöhen.
Seinen Namen soll der Gletscher von einer Sage haben, der „Jungfrau von Morteratsch“. Eine wohlhabende Bauerstochter verliebt sich in einen Viehhüter, doch die Eltern sind gegen die Beziehung und wollen die Tochter nur reich verheiraten. Der Vater sorgt dafür, dass der Bursche aus dem Bündner Oberland im nächsten Sommer seine Arbeit auf der Alm verliert. Aratsch, der junge Mann, wird Soldat, die Tochter leidet sehr und stirbt aus Kummer und Liebesweh. Zu spät kehrt der Geliebte zurück. Als er von ihrem Tod erfährt, reitet er hinauf zur Alp und stürzt sich mitsamt Pferd in den dahinterliegenden Gletscher. Nacht für Nacht geht daraufhin der Geist der Bauerstochter am Berg umher. Mort Aratscht hört man sie klagen, Aratsch ist gestorben.
Der Senner, dem die Alm gehört, mag den Geist gut leiden, denn die Kühe geben reichlich Milch, der Rahm ist fetter als zuvor, es verunglückt auch kaum mehr ein Tier. Der nachfolgende Senner jedoch verweist den Geist der Klagenden vom Berg, worauf sie die Alm verflucht. Die Weiden werden magerer, der Gletscher dringt aus der Schlucht dahinter weiter vor, sodass keine Tiere mehr dort gehalten werden können. So erhielt der Gletscher seinen Namen Mortaratsch. Der Gletscher ein Friedhof. Und wenn der Gletscher weint, dann eigentlich um uns. Das klimabedingte Gletscherschwinden besagt ja vor allem, dass es der Spezies Mensch an den Kragen geht. Gräber im Wasser, damit endete mein letzter Blogeintrag. Diesmal interessieren mich die Farben Weiß und Schwarz.
Farben der Trauer und des Todes
Weiß gilt in asiatischen Kulturen und im Buddhismus als Trauerfarbe. Schwarz ist die Trauerfarbe des Abendlandes. In Mitteleuropa und Nordamerika gehört spätestens seit dem 19. Jahrhundert die schwarze Kleidung zum Begräbnisritual und zeigt den Status der Hinterbliebenen an. Schwarze Witwentracht. Geschneidert aus matten Stoffen, die keinerlei Licht reflektieren und nicht glänzen dürfen. Das Totenhemd wiederum ist weiß. Ebenso wie die vielen Weißen Frauen, die ruhelosen Geister meist auf tragische Weise zu Tode Gekommener. Totenblass, gespenstisch weiß. Sie gehen durch Wände, tauchen plötzlich auf, suchen heim und verschwinden lautlos. Wie der Schnee.
Die Farbe Schwarz verschluckt das Licht, absorbiert, löscht aus. Schwarz ist der Abgrund, das Ende, die Depression, Nacht und Gefahr, Düsterkeit, Finsternis, Leere, Isolation. Auch Macht, Kontrolle, strenge Eleganz wird mit der Farbe schwarz assoziiert.
Weiß dagegen ist die Summe aller Farben des Lichts. Weiß steht für Unschuld, Reinheit, Helligkeit, Blütenfrische, Sauberkeit, Stille, Transparenz. In einigen afrikanischen Kulturen geht ebenfalls die Farbe Weiß mit dem Tod einher. Weiße Körperbemalung dient dazu, mit den Geistern in Kontakt zu treten. Als weiße Ameisen werden in afrikanischen Mythen Termiten bezeichnet, Termitenhügel sollen mit der Unterwelt verbunden sein.
Weiß und schwarz – so unterschiedlich in ihrer Bedeutung und doch werden beide Farben mit dem Tod in Zusammenhang gebracht; alles und nichts. Der Ägyptologe Jan Assmann unterscheidet zwischen Kulturen, die den Tod als das Ende betrachten und das Jenseits, das Leben nach dem Tod, als etwas, das dem Leben angestückelt wird, und solchen Kulturen, die den Tod als eine Fortsetzung des Lebens sehen. Möglicherweise erklärt das auch die Trauerfarben Schwarz und Weiß. Die weiße Farbe macht den Tod gewissermaßen durchlässig, zukunftsoffen und lebendig. Da geht noch was und sei es ein Spuk. Weiße Chrysanthemen auf den Gräbern zu Allerheiligen symbolisieren die lebendig gehaltene Erinnerung an die Toten. Im Buddhismus, Trauerfarbe Weiß, bedeutet der Tod nicht das absolute Ende, sondern er ist ein Ereignis in der langen Abfolge von Wiedergeburten. Im Christentum, Trauerfarbe Schwarz, gibt es zwar eine Vorstellung von Auferstehung, jedoch als dem Leben angehängt. Erst Endlichkeit, dann Ewigkeit, und von dieser Ewigkeit existieren kaum konkrete Bilder. Die Toten sind im Himmel. Hm. Was machen sie da? Sie sitzen auf Wolken. Die Wolken sind meistens weiß. Eine andere Vorstellung vom Jenseits, die ähnlich kindlich anmutet wie das Herumsitzen auf Wolken: die Toten gelangen ins Paradies. Das Paradies ist bunt.
„Wie klein ist hier das Leben
und wie groß das Nichts.“ (Robert Walser)
Über Nacht hat es geschneit, die Landschaft draußen ist weiß soweit das Auge reicht. Nur die Bäume zeichnen mit ihren blattlosen Ästen krakelige Strichfiguren auf den hellen Grund wie auf ein leeres Blatt Papier. Am Anfang war alles weiß. Der Schnee schluckt die Farben, das Harte, den Lärm. Er ist sanft und leise, kalt und weich.
„Der Schnee fällt nicht hinauf sondern nimmt seinen Lauf hinab und bleibt hier liegen, noch nie ist er gestiegen. Er ist in jeder Weise in seinem Wesen leise, von Lautheit nicht die kleinste Spur. Glichest doch du ihm nur. Das Ruhen und das Warten sind seiner üb’raus zarten Eigenheit eigen, er lebt im Sichhinunterneigen. Nie kehrt er je dorthin zurück, von wo er niederfiel, er geht nicht, hat kein Ziel, das Stillsein ist sein Glück.“
Das dichtete der Schweizer Schriftsteller Robert Walser, der im Schnee sein Ende fand. Er fiel am ersten Weihnachtsfeiertag bei einem winterlichen Spaziergang in den Schnee und stand nicht wieder auf. „Eine Schneeflocke flog mir auf den Mund“, lautet eine Zeile aus einem Mikrogramm von Walser. Der Schnee ist ein zartes Bild vom Tod. Und wenn Frau Holle ihre Federkissen schüttelt, rieselt es bei den Menschen leise. Frau Holle ist nicht von dieser Welt. Das Mädchen, dem die Spindel in den Brunnen fiel, steigt durch den Brunnen zu Frau Holle hinab. „Jenseitsbereiche im Diesseits“, nennt der bereits erwähnte Jan Assmann solche Anderswelten.
Frau Holle, die Märchenfigur, hat ihre Vorgängerin in der Frau Perchta, einer Sagengestalt vermutlich keltischen Ursprungs. Perchtas Atem kann blenden oder sogar töten gleich dem Schnee. Sie tritt vor allem im Winter in den Raunächten in Erscheinung, der Zeit zwischen den Jahren, zwischen der Wintersonnwende und dem Dreikönigstag. Auch soll die Perchta auf dem Land am Abend vor Dreikönig erscheinen als eine alte Frau in ärmlicher Kleidung, gestützt auf einen Stock und einen Leiterwagen hinter sich her ziehend. Sie wird begleitet von einer Gruppe kleiner Kinder, die keine Namen tragen, weil sie ungeboren oder noch ungetauft gestorben sind. Wer ihnen begegnet und dem letzten Kind die Hand auflegt und ihm einen Namen gibt, den findet übers Jahr das Glück.
Frau Holle und Frau Perchta stehen zugleich für das Leben und für den Tod. Sie verkörpern Anfang und Ende in einer Person. Mutter Erde, schon in den Startlöchern fürs Frühjahr unter dem Schnee. Im Garten der Frau Holle wachsen Apfelbäume, im Ofen duftet das frisch gebackene Brot. Bevor der Tod ca. Mitte des 12. Jahrhunderts schwarz wurde, ein düsterer, grimmiger, unbarmherziger Sensenmann, hatte in vielen volkstümlichen Traditionen der Tod eine weibliche, oft weiße Gestalt. Vor der Hexenverfolgung und der Inquisition, die für die Verdrängung und Unterdrückung von naturverbundenen Frauenkulturen sorgten, war die Sense eine Sichel, die Sichel der Notburga, der Schnitterin. Als Heilige Notburga wurde sie insbesondere in Tirol und Bayern verehrt, dargestellt mit einer Schürze, Getreideähren, Brot und Wasserkrug. Die Sichel symbolisiert den zu- und abnehmenden Mond, Leben und Sterben als zyklische Abfolgen. Eine Sichel wurde auch manchen Toten mit ins Grab gelegt.
„Nun ist die Welt so trübe, der Weg gehüllt in Schnee.“
(aus der „Winterreise“, Text Wilhelm Müller)
In Schuberts „Winterreise“, der Wanderung des einsamen, romantischen Helden, hat der Schnee nichts tröstliches mehr an sich. Er ist eisig und kalt, die Tränen gefrieren, das Herz wie erstorben, Abwesenheit von Liebe und Trost. Eine schwarze Krähe flattert dem Wanderer um den Kopf. Todesgedanken. Der Weg des Sängers durch die verschneite Landschaft führt schließlich zum Wirtshaus, einer unbarmherzigen Schenke, dem Totenacker, zum Friedhof. Doch noch ist es zu früh zum Sterben. Der Wanderer muss weiterziehen, und der Schnee, scheint mir, sieht in der Winterreise grau und schmutzig aus, den Ausläufern schmelzender Gletscher gleich. Wie lange es noch dauern wird, bis hier wieder Blumen blühen!
Bei der Beerdigung meiner Tante vor einigen Jahren hatte es ebenfalls kurz zuvor geschneit. Wir standen mit kalten Händen am Grab. Mein Vater, der seine ältere Schwester sehr geliebt hat und zu dem Zeitpunkt selber schon nicht mehr ganz sicher auf den Beinen war, wäre fast ins Grab gestürzt, als er an dessen Kante trat, um sich zu verabschieden. Für einen Moment wollte er mit seinem Rollator dort hinein, wie der junge Aratsch mit seinem Pferd in den Gletscher.
Nachtrag: In der Nacht von Dreikönig liege ich sehr früh wach und denke in der Dämmerung an das, was ich während der Tage zwischen den Jahren geschrieben habe. Da fällt mir wieder ein, dass mein Vater noch eine jüngere Schwester hatte. Sie wurde während des Zweiten Weltkriegs bei einem Fronturlaub von meinem Soldatengroßvater gezeugt, kam Anfang der 1940er Jahre zur Welt und starb noch vor Ende des Krieges. Ich weiß nicht, wie und woran das Kind gestorben ist. Starb es am Krieg?
Und so lege ich dem letzten Kind aus der Elterngeneration die Hand auf den Rücken und sage seinen Namen, Josefine. Vielleicht bringt das nicht nur mir, sondern auch allen, die es lesen im kommenden Jahr ein Glück.