Die Inzidenzwerte steigen. Vor einigen Monaten war das noch ein Wort ohne Geschmack und Belang, ein Wort aus einer Petrischale geboren, abstrakt und dem gelebten Leben fern. Inzidenzwert, hm. Doch während ich noch damit beschäftigt bin, den letzten Spaziergang mit Franz auf die Computerfestplatte zu bannen, steigen die Werte der Inzidenzien, heißt: Ausgehverbot droht. Der Drogeriemarkt um die Ecke erlebt als Déjà-vu den Ausverkauf des 3-lagigen Klopapiers. Es ist ein seltsames Nebeneinander, das gerade geschieht. Die öffentliche Angst und die öffentliche Ablehnung der Angst, die medizinischen Befunde, die Zahlen und Statistiken, die bezifferten Infizierten und die unbezifferten Gesunden, das neue, den Laboren entsprungene Vokabular. Kontaktpersonennachverfolgung, noch so ein Wort. Hinter einem zugewachsenen Gewächshaus nahe des ehemaligen Osram-Geländes unweit der Isar erspähen Franz und ich ein Gebilde, das wir im Oktober 2020 als frühen, noch etwas groben Coronavirus-Prototypen betrachten. Auch unsere Wahrnehmung ist von der Pandemie erfasst. Eine vergammelte kleine Biosphäre steht ebenfalls im Gestrüpp. Möglicherweise wurde von Untergiesing aus der Bauplan der Gegenwart in die Welt verschifft. Nein?
Der Herbst ist noch einmal sonnig geworden. Ein sanfter Fön wärmt die Luft. Die Menschen tragen ihre Jacken offen. Franz und ich mäandern durch die Straßen und Gassen zu Füßen des Giesinger Berges. Herabfallendes Laub färbt die Bürgersteige gelb, rotbraun, dunkelrot, ocker, braun. Der Klang der Schritte wird von heiserem Rascheln und Knistern begleitet. Die Natur jubelt uns ihr herbstliches Memento Mori unter.
Wir, auf unserer Suche nach Verborgenem, halten Ausschau nach dem Auer Mühlbach, irgendwo hier muss er sein. Wir überqueren die breite Autofahrbahn, die zum Giesinger Stadion führt, biegen hinter einem düsteren Bürogebäude in einen Fußweg ein, 4,3 km zum Marienplatz zeigt ein Schild. Beton zu unserer Rechten, Beton über unseren Köpfen, der Verkehr auf dem Mittleren Ring tost laut, so laut, dass wir den Bach nicht singen hören. Plötzlich ist er da, breitet sich vor uns aus. Aufgetaucht gleich einer dunkel glitzernden Riesenschlange, deren geschmeidiger Leib einen irritierenden Kontrast schafft zu Stein und Asphalt und dem Korsett aus Stahlbeton, das die archaische Kraft des Wassers bändigen soll. Kein Bächlein, ein ausgewachsener Bach, der Auer Mühlbach, herrlich anzusehen.
Fernöstliche Weisheitslehren empfehlen, zur Bewahrung des inneren Gleichgewichts an fließenden Gewässern entlang zu gehen. Das tun wir. Der Mühlbach murmelt vom Verstreichen der Zeit, murmelt seine viele Tausend Mal erzählten, zahnlos vergesslichen Geschichten der Vergänglichkeit. Der Fließrichtung des Wassers stadteinwärts folgend passieren wir die Stelle, an der einmal die älteste, urkundlich erwähnte Mühle Münchens stand. Seit 1987 befindet sich am selben Ort ein privat betriebenes Kleinkraftwerk, „Kraftwerk Bäckermühle“, das mit seinen zwei Turbinen einige Hundert Haushalte mit Strom versorgt. Erbauer des Kraftwerks war der Pächter des Grundstücks, ein Kfz-Meister namens Günter Tremmel, Befürworter einer Energiewende avant la lettre. In Tschernobyl musste jedoch erst ein Atomreaktor explodieren, bevor die Münchner Stadtverwaltung das Vorhaben des Automechanikers bewilligte.
Der stets auf Wanderschaft bedacht Bach führt uns weiter zu einer Arbeiterwohnsiedlung, geschätzte Entstehungszeit kurz vor oder kurz nach nach dem Krieg. Langgestreckte Wohnbebauung, Gemeinschaftsgärten zur Bachseite hin. Der Lärm des Mittleren Rings hängt wie eine Glocke über der Waldeckstraße an ihrem Beginn. Dann übernimmt das Rauschen des Baches, die Geräuschkulisse verschiebt sich kaum merklich zum Idyllischen. Das Laub, das von den hohen Bäumen in die Innenhöfe fällt, hat eine ähnliche Färbung wie die Fassaden der Häuser, herbstlich heruntergekommen. Am geöffneten Fenster im zweiten Stock putzt eine Frau im roten Pullover ihre Schuhe. Ein Haus weiter, am offenen Fenster im Erdgeschoss, plaudert ein Glatzköpfiger mit einem Nachbarn, der draußen steht und den Kopf nach oben dreht. Zwei junge Mütter heben ihre Kinder am Sandkasten ins Karussell, die kleinen Hände greifen nach den groben Eisenbügeln, gut festhalten! Die Drehscheibe aus Holz wird in Bewegung gesetzt. Auch die Bauweise des Kinderkarussells stammt von kurz vor oder nach dem Krieg.
Wir überqueren den Bach, begegnen am Steg einem zweiten Glatzköpfigen, einem aus Stein. Auf den breiten Schultern und der Schädeldecke wachsen dunkelgrüne Pölsterchen aus Moos. Wir rätseln, wen das darstellen mag. Leicht gebückte Haltung, Schürze, Haltung einer Wäscherin, Waschbrett vor den Knien, in den Pranken ein flaches Arbeitsgerät. Denkmal der anonymen Untergiesinger Wäscherin als Mann? Wir sprechen eine ältere Bewohnerin an, die einen Wohnblock weiter am Zaun zum Bach neben dem penibel gepflegtesten Stückchen Blumenbeet steht. Sie fragt uns völlig humorlos, ob wir einen Einbruch planen. Apropos diffuse Ängste. Franz mit Fotoapparat vor der Brust, ich mit gezücktem Smartphone in der Hand, sie auf der einen Seite des Bachs, wir auf der anderen. Wir lachen den kriminellen Eindruck, den wir offenbar auf sie machen, weg. Franz fragt nach dem Denkmal. Das sei ein Lohwäscher, sagt die Frau. Früher habe es am Bach eine Gerberei gegeben. Die ganze Gegend nannte sich Lohe, Lohstraße heute. Lohe bedeutet Auwald, der Wald an der Unterkante des Giesinger Bergs, bis Mitte des 19. Jahrhunderts Überschwemmungsgebiet der Isar. An die „Mayersche Lederfabrik“, 1808 bis 1930, Zulieferer der Königlichen Armee und bald die modernste Lederfabrik Deutschlands, erinnert nur noch der bemooste grobschlächtige Gerber. Es muss übel gerochen haben zu seiner Zeit, der Bach eine stinkende giftige Wasserkobra, in deren Bett die Bewohnerinnen und Bewohner der Arbeiter- und Taglöhnerunterkünfte ihre Abwässer und Nachttöpfe kippten.
Drei Fußminuten später verschwindet der Bach, ebenso unerwartet wie er zuvor erschienen war. Die Riesenschlange taucht unter. Unter die Häuser, unter die Stadt.
Fotos: Franz Kimmel