Morgens um fünf, ich liege wach. Es braucht nicht viel, um den letzten Schleier Schläfrigkeit zu lüften, der mich noch trennt vom Tag. Mein Dämmerzustand um die Uhrzeit ist dünn wie Chiffon. Im Hühnerstall hinter dem Haus kräht der Hahn. Auch du, Gockel. Der schwarze Hahn, der meinem Schlaf den Dolch ins fadenscheinige Gewand sticht, heißt Ayam Cemani. Seine Rasse wird so genannt, und er ist tatsächlich schwarz bis zum Kamm. Sogar sein Fleisch und seine Knochen sollen schwarz sein, das konnte ich bisher nicht überprüfen. Die Eier der schwarzen Hennen liegen cremefarben bis weiß im Stroh. Und ich bin nun endgültig hellwach. Von irgendwo aus der Ferne höre ich das Krähen eines zweiten Hahns. Dann wieder Ayam Cemani. Kurze Pause. Cemani ist dran, darauf der andere, leiser, echogleich. Zwei Muezzins beim Morgengebet in der Herrgottsfrühe eines heißen Sommertags. Kommunizieren die Hähne etwa miteinander? Antwortet der eine dem anderen, was haben sie sich zu sagen? „Kräht der Gockel auf dem Mist“, geht mir das Sprichwort durch den Kopf, „ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist.“ Gegen halb sechs beginnt es zu regnen. Der Gedanke, der morgendliche Weckruf könnte ein tierischer Dialog sein über den Hühnerstall hinaus, zirkuliert mit zu hoher Temperatur in meinen Hirnströmen.

Was hätten die Hähne davon, wenn sie sich über das Wetter unterhielten? Wir Menschen sind es gewohnt, die Vorgänge da draußen am Rand der menschlichen Wahrnehmung in Kategorien von Zweckbeziehungen zu interpretieren. Der Schrei des Gockels braucht einen existenziellen Nutzen. Nur der menschlichen Spezies gestehen wir es zu, aus Jux und Dollerei, einfach nur so, just for fun, zu schreien, zu jodeln, zu handeln. Ich weiß in diesem Moment sehr genau, dass ich nichts weiß über das Federvieh an den Außengrenzen meiner Behausung. Weder wer zuerst da war – das Ei?, die Henne? –, noch ob die Hähne miteinander plaudern.

Die Botanikerin Robin Wall Kimmerer beschreibt in ihrem Buch „Braiding Sweetgrass“ („Geflochtenes Süßgras“) wie sie versucht, die Sprache ihrer indigenen Vorfahren zu lernen. Sie gehört zur Citizen Potawatomi Nation. Nur noch neun alte Frauen und Männer beherrschen zur Entstehungszeit des Buches fließend Potawatomi als Muttersprache. Die Autorin macht darauf aufmerksam, dass die englische Sprache etwa 30 Prozent Verben beinhaltet, Potawatomi dagegen 70 Prozent! Verben müssen konjugiert werden (ich, du, er, sie, es etc.), haben verschiedene Zeitformen (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft) und grammatikalische Fälle (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ u.ä.), was den Spracherwerb nicht einfach macht. Die indigenen Welten, die Welten der sogenannten Naturvölker, sind nach dem Anteil der Verben zu urteilen dynamischer, prozesshafter, vitaler, es stehen weniger Substantive in der Sprache herum. Substantive wie beispielsweise „die Natur“. Substantive, die der Objektivierung dienen, der Versachlichung. Auch wird in Potawatomi nicht nach männlich und weiblich unterschieden. Dagegen wird nach belebt und unbelebt getrennt, und je nachdem, wovon man spricht, werden andere Verbformen benutzt.

Die vielen Verben erklären sich dadurch, dass Dinge, die in europäischen Sprachen objekthaft, unbeseelt, leblos gedacht werden, in der indigenen Vorstellung Seinszustände bedeuten. Samstag-sein, Berg-sein, rot-sein, ein langer sandiger Strand sein, eine Bucht sein. Berge, Buchten, Strände sind nicht die Kulissen einer Landschaft. Farben nicht nur Attribute derselben. In der animistischen Sicht der indigenen Sprache stehen Menschen und andere Gegebenheiten auf gleicher personaler Stufe. Die eigene Großmutter ist ebenso ein Seiendes, ein Subjekt, wie Wasser, Feuer, Hügel, Pflanzen, Geschichten, Lieder. Die Liste des Unbelebten umfasst Dinge, die vom Menschen gemacht wurden.

„Was ist das?“, fragt man zum Beispiel von einem Tisch.
„Wer ist das?“, lautete die Frage bei einem Apfel.

Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass es Benutzerinnen und Benutzern einer solchen Sprache schwerer fällt oder sogar unmöglich ist, Wesenheiten vom Status der eigenen Großmutter Gift ins Maul zu schütten, sprich Luft und Gewässer zu verpesten. Respekt vor der Umwelt, diese zu achten, prägt die Grammatik der indigenen Sprache.

In meiner Sprache bin ich jedoch genötigt, allzu pauschal über „die Natur“ zu sprechen, sobald ich das Konglomerat, die komplexe Struktur, das Gewimmel vor meiner Haustür zu beschreiben suche. Ich lebe auf dem Land. Rings um den Hof, auf dem ich wohne, tummelt sich Grün-seiendes, Baum-seiendes, Vogelgezwitscher-trällerndes, Klee-seiendes, Wiederkäuendes. Neulich bemerkte ich, dass die zwei Katze-seienden der Nachbarin, die ihre Wohnung nicht mehr verlässt, vermehrt im Hof herumstrichen. Es schien, als ob die Tiere der Frau aus dem Weg gingen. Sie taten es mit katzenhafter Nonchalance, lagen wie zwei zu klein geratene gelangweilte Sphinxe, eine in Weiß, eine getigert, vor jeweils einem Scheunentor in der Sonne und leckten gelegentlich mit ihren rosa Zungen über ihre Pfoten. Ein paar Tage später wurde die Nachbarin ins Krankenhaus gebracht, ihr Mann hatte die Sanitäter gerufen. Was uns als plötzlicher Notfall erschien, hatten die Katzen offenbar bereits – ja, was? Gerochen? Gespürt? Vorausgeahnt? Uns prophezeit?

Nach der Lektüre von Robin Wall Kimmerers Buch wird mir klar, dass mein Unbehagen mit dem Begriff Natur vor allem in dem Singular „die Natur“ begründet liegt. Natur ist nicht singulär. Natur zu sagen geht eigentlich nur, wenn damit Vielfalt und Pluralität gemeint ist. Der Garten ein Kollektiv. Die Wiese ein Kollektiv. Jede Landschaft ein Kollektiv. Auf einmal sind wir Zweibeinigen in der Minderheit. Auf einmal sind wir eine Stimme von vielen. Ob die anderen aus dem Kollektiv uns überhaupt mögen? Ob sie uns mitspielen lassen? Vielleicht halten sie uns für tollpatschig, da lägen sie nicht ganz falsch. Vielleicht rollen sie mit den Augen, sobald sie uns sehen. Metaphorisch gesprochen. Vielleicht beachten sie uns gar nicht oder halten uns für total bescheuert wie wir die Stubenfliegen an manchen Tagen. Vielleicht sind sie sich uneins über uns, je nachdem, welche Erfahrungen sie mit uns gemacht haben. Es könnte auch sein, dass für das Naturkollektiv kein Zweifel darüber herrscht, dass wir dazugehören. Schließlich sind wir Seiendes. Eingeflochten, verwebt, verbunden, wechselwirkend, interagierend mit allem, was ist. Nicht mehr als das.

Ich werde weiterhin nach einer sprachlichen Lösung fahnden, um nicht „die Natur“ sagen zu müssen. Oder geht es darum, nicht mehr ÜBER die Natur zu reden, sondern sie zu erzählen? Ähnlich den Aborigines mit ihren Songlines. Ähnlich den Geschichten der indigenen Großmütter.

Im dritten Jahr nachdem der krumme Walnussbaum gefällt worden war, gingen neue Walnusssprösslinge im Garten auf und begannen zu wachsen. Ein Sprössling im Hochbeet. Einer im Rosmarintopf. Als ob der zweite, der stehen gebliebene, ebenfalls nicht mehr junge Walnussbaum danach trachte, rechtzeitig für Nachwuchs zu sorgen, und zwar so, dass es von der Gärtnerin bemerkt wurde und die keimende Saat nicht unter den Rasenmäher geriet.