Es ist einer dieser extrem heißen Sommertage. Das Außenthermometer an der Hauswand misst 34 Grad im Schatten. Nicht eine Regenwolke weit und breit. Am Lindenbaum vor meinem Fenster regt sich kein Blättchen. Die Luft steht still. Man selbst tut ebenfalls gut daran, sich still zu verhalten. Schnelle Bewegungen vermeiden. Drinnen bleiben und nichts denken oder empfinden, was das Hirn und das Blut in Wallung geraten lässt. Ein perfekter Tag, um einen Text zu schreiben, der schon lange auf meiner Liste steht. Ein Text über ein Thema, das für reichlich Aufregung und Empörungswut sorgt. Ich werde versuchen, Hitze gegen Hitze zu setzen – den heißen Tag vs. das heiße Eisen – und über das Gendern schreiben, also den geschlechtergerechten Sprachgebrauch – so übersetzt es der Duden.

Das Wort gendern ist ein schreckliches Wort, das in solcher Schrecklichkeit wohl nur im Deutschen existiert. Das Wort an sich würde ich gerne abschaffen, nein, überflüssig, unnötig machen. Denn die Sache, um die es geht, sollte selbstverständlich sein: jeder Person im Raum unseres Miteinander als soziale Wesen ein Daseinsrecht zuzugestehen. Unabhängig davon, welche sichtbaren und unsichtbaren Merkmale diese Person charakterisieren und auszeichnen. Oder wie es das deutsche Grundgesetz formuliert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die Würde jedes Menschen ist gemeint. Gerechtigkeit und Würde bedingen einander.

Drei Gründe fürs Gendern

Für mich gab es bisher zwei hauptsächliche Gründe, warum ich beim Schreiben nicht nur männliche Substantive zur Bezeichnung von Personen verwende. Ein dritter Grund ist dazu gekommen, nämlich der, dass die AfD gegen das Gendern wettert. Das allein sollte für alle, die zeigen wollen, wo sie politisch NICHT stehen, Grund genug sein, jetzt erst recht zu gendern.

Bei Nichtangehörigen der AfD entspringt eines der Argumente gegen die Verwendung auch weiblicher und geschlechtsneutraler Sprachformen oft einer gewissen Trägheit und Behäbigkeit. Meist bei Menschen zu finden, die durchs Gendern gefühlt wenig zu gewinnen haben, weil sie vom generischen Maskulinum ohnehin gemeint sind. Oft sind dann solche Argumente zu hören wie, es sei zu kompliziert, so spreche doch niemand, so haben wir es doch immer gemacht, warum sollten wir etwas an unserem Sprachgebrauch ändern, das kann man nicht von außen aufdrücken.

Sprache ist eine Art, etwas zu sehen

Erst kürzlich notierte ich folgenden Satz, den ich in einer Kurzgeschichte des nordamerikanischen Schriftstellers mit indianischen Wurzeln Sterling HolyWhiteMountain fand: „In the end, what I learned is that a language is a way of seeing, and there is almost no way to see in the old way now.“

Sprache ist tatsächlich eine Art zu sehen. Sprache verändert sich im Lauf der Zeit. Wir sprechen nicht mehr wie zu Goethes Zeiten. Geschichtliche Ereignisse verändern eine Sprache. Sprachen kennen beispielsweise Lehnwörter aus anderen Sprachen. Irgendwann marschierten französische Truppen durch deutsche Lande und hinterließen Worte wie Trottoir, Chaiselongue, Portemonnaie, Vis-a-vis… Der Umgang mit dem Internet durchsetzt Sprachen mit amerikanisch-englischem Vokabular. Streamen, downloaden, Backups machen. Sogar Markennamen können zu feststehenden Begriffen werden, wir ziehen Tempos aus der Tasche und googeln neue Bekannte. Warum sollte es dann so schwer sein, Lehrerinnen und Lehrer zu sagen, wenn ein gemischtgeschlechtlicher Lehrkörper gemeint ist, oder Ärztin statt Arzt zu einer Frau im weißen Kittel, die mir Blut abnimmt?

Wer vertritt welche Werte?

Damit komme ich zu einem meiner Hauptargumente, warum ich gendere. Ich tue dies und tat es, lange bevor das Wort gendern überhaupt seinen Weg in den deutschen Duden fand. Ich schrieb von Kundinnen und Kunden, die vor einem Metzger Schlange standen, weil ich sie dort stehen sah. Ich sah nicht nur Kunden, also fleischhungrige Männer vor dem Metzgerladen in der Schlange. Das wäre ein völlig anderes Bild.

Ich benutze die weibliche Form, wo Frauen anwesend sind. Ich möchte, dass Frauen als Menschen und Handelnde sichtbar werden in meinen Texten. Das ist meine Verbeugung vor der Frauenbewegung, der ich so viel verdanke von dem, was heute für Frauen selbstverständlich erscheint. Dass ich als verheiratete Frau ein eigenes Bankkonto und Verfügungsgewalt über eigenes Geld besitze. Verdanke ich der Frauenbewegung. Dass ich als Autorin Lesungen vor Publikum halten kann, einem Publikum von Männern, Frauen, Diversen. Sie hören mir zu, nehmen mich ernst. Diese Freiheit des Selbstausdrucks verdanke ich der Frauenbewegung. Dass ich Texte für meinen eigenen Blog schreibe, den ich selber in WordPress programmiere. Die Frauenbewegung hat dafür den Weg gebahnt.

Wenn ich gendere stelle ich mich daher in eine Tradition. Die Tradition der Aufklärung, die Tradition eines humanistischen Menschenbilds, die Tradition emanzipativer Bewegungen. Zu gendern bedeutet für mich, meine Werte offen zu legen.

Und wer sich dem Gendern verweigert, legt ebenfalls Werte offen – oder eine große Gleichgültigkeit gegenüber sozialen, kulturellen, gesellschaftlichen Zusammenhängen.

Übrigens heißt gendern nicht automatisch, dass jeder Text von Gendersternchen durchdrungen sein muss wie eine verschriftliche Milchstraße. Die deutsche Sprache bietet verschiedenste Möglichkeiten, einen Text geschlechtergerecht zu gestalten. Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, ein guter Text ist ein gut gegenderter Text. Aber über das WIE des Genderns wollte ich gar nicht schreiben, sondern über das WARUM.

Grammatik einer Sprache der Zivilgesellschaft

Werte offenlegen. Da war ich stehen geblieben. Mein zweites Hauptargument: Ich möchte einfach nie, nie, nie in eine Situation geraten, in der ich einen Satz bilde, der den Begriff „die Juden“ enthält, wenn ich von einer gemischten Gruppe von Menschen mit jüdischer und/oder israelischer Herkunft spreche oder schreibe. Ich möchte dann von Jüdinnen und Juden reden oder von Menschen jüdischen Glaubens oder Personen aus Israel. Ich möchte eine Sprache sprechen, die es mir nicht gestattet, Formulierungen zu verwenden, die Nazi-Formulierungen sind. Ich möchte eine nicht-faschistische Sprache sprechen. Eine Sprache, die zu differenzieren vermag. Eine Sprache, die Vielfalt und Diversität auszudrücken weiß. Eine Sprache, die Menschen als komplexe, manchmal auch komplizierte, stets aber liebenswerte und liebesfähige Wesenheiten sichtbar werden lässt. Ich möchte eine Sprache für die Zivilgesellschaft sprechen, eine Sprache, die um die Würde jedes einzelnen unverwechselbaren Lebens weiß und dieses respektiert.

Zu gendern ist für mich daher mehr eine Geisteshaltung als ein bloßer Formalismus. Sprache verändert sich im Lauf der Zeit. Das Gendersternchen mag eine Zwischenstation sein. Die Frauenbewegung kannte auch schon den Unterstrich (Bürger_innen), das Binnen-i (IngenieurInnen) und den Querstrich (Künstler/innen). Neben dem Gendersternchen (Minister*innen) ist aktuell der Doppelpunkt in Gebrauch (Gärtner:innen). Wir werden sehen, was sich durchsetzen wird. Möglicherweise entwickelt sich parallel etwas ganz anderes, das irgendwann zum Mainstream heranwächst und das schreckliche Wort gendern in Vergessenheit geraten lässt.

Leichte Bewegung im Lindenbaum. Ein Lüftchen kommt auf. Immer noch 34 Grad. Vielleicht sollte ich das Runterkühlen mit kleinen Schlucken warmen Pfefferminztees probieren.