Franz und ich wandern die Tegernseer Landstraße entlang. Giesing Zentrum. In der ehemaligen Stadtbibliothek werden jetzt Fahrräder verkauft. Schicke Lifestyleräder, E-Bikes, Pedelecs. Am Edelweißplatz werfen wir einen Blick auf den „Torre Pendente“, einen riesigen Mahagonibaumstamm, 2 Meter Durchmesser. Seit den 1980er Jahren ragt er schräg gen Himmel und gemahnt an die naturgegebenen Grenzen des Wachstums. Wir überqueren die Trambahngleise und besuchen die Buchhändlerin der Giesinger Buchhandlung. Bettina Roetzer hat das Geschäft im April vor einem Jahr vom Vorgänger, der aus Altersgründen eine Nachfolgerin suchte, übernommen. Sie hatte zuvor einen kleinen Buchladen in Haidhausen, der neue in Obergiesing ist größer, das Klientel gemischter. Es kämen hier auch Menschen über 70 zu ihr, sagt sie, die angestammten Giesinger und Giesingerinnen. Man sieht sie überall im Viertel, sie nehmen das Tempo raus und wissen Geschichten davon zu erzählen, wie es früher war. Im Laden haben die neue Buchhändlerin und ihre Mitarbeiterinnen den abgetretenen Teppich ausgetauscht und die vorher dunklen Wände hell gestrichen. Bettina strahlt und schaut aus wie jemand, die ihren Platz gefunden hat. Giesing leuchtet. Der Zauber ist noch intakt, ich kann ihn funkeln sehen.
Vor dem Buchladen entspinnt sich ein Gespräch darüber, ob Obergiesing das nächste In-Viertel wird, und ob es schon seinen Giesinger Charme verliert. Eine junge Frau mit Kindertransportanhänger am Rad berichtet von drei Wohnhäusern in der Kesselbergstraße, die gerade „entmietet“ werden. In einem davon wohne sie selbst mit Familie. „Erst wird saniert, dann alle drei Jahre die Miete kräftig erhöht, dann ziehen die Mieter, die es sich nicht mehr leisten können, aus.“ Seit zehn Jahren lebe sie in Giesing. Dann überlegt sie kurz. „Naja, irgendwie sind wir auch Teil der Gentrifizierung.“ Hinter dem Satz hängt ein Fragezeichen in der Luft, dem Franz und ich in detektivischer Mission durch enge Kopfsteinpflastergassen bis in die Feldmüllersiedlung folgen.
Tatort Obere Grasstraße 1. Sämtliche Häuser der Feldmüllersiedlung stehen unter Denkmal- und Ensembleschutz. Drei Jahre ist es her, da rückte am hellen Tag ein Bagger an und grub seine Schaufelzähne in die Fassade des sogenannten Uhrmacherhäusls. Zuletzt hatte tatsächlich noch ein Uhrmacher dort gewohnt, dann stand das Haus leer. Anwohner alarmierten die Polizei. Der Abrissversuch wurde gestoppt. Am nächsten Tag kam der Baggerfahrer wieder und beendete selbstherrlich die illegale Destruktion. Der Hausbesitzer will nichts gewusst haben. Die Stadt reichte Klage ein, der Abbruch ging durch die Presse. In der Oberen Grasstraße klafft eine Lücke. Ein Verhau aus Pressspanplatten schützt die letzten Mauerreste, lila Sommerflieder blüht in der Brache. Einmal im Monat findet eine Mahnwache statt. Das Haus war älter als der Fußballverein. Bei der städtischen Baubehörde wurde im Frühjahr vom Besitzer ein Antrag für ein höheres Gebäude eingereicht. Das Verfahren läuft noch.
Und wer war Feldmüller?
Therese Feldmüller, geborene Schlutt, kommt im Jahr 1801 in Schliersee zur Welt. Der Vater ist Wirt, Makler und Grundstückspekulant. Ein Frauenleben, dokumentiert in amtlichen Vermerken, Grundbucheinträgen und Katasterblättern. Therese heiratet den Anton Feldmüller, Gastwirt aus Kirchensur bei Amerang. Am 4. Mai 1839 beantragt sie eine Aufenthaltsgenehmigung in München wegen „Ehedifferenzen“, vermutlich jedoch, um das väterliche Erbe anzutreten. 15. Januar 1840, die Feldmüller meldet sich in München ab, lässt sich in Obergiesing nieder und kauft von ihrem Erbe ein Bauernanwesen. Die Landwirtschaft verpachtet sie und erwirbt im selben Jahr noch weitere Grundstücke in Obergiesing. Ihre Äcker und Wiesen lässt sie in Parzellen teilen und verkauft sie, wann immer sie Geld benötigt, an zugereiste Kleingewerbetreibende, Tagelöhner, Handwerker, Arbeiter zum Bau von Eigenheimen. Die Feldmüllersiedlung entsteht. 1844: Der Pächter der Landwirtschaft setzt sich ab unter Hinterlassung von Schulden. Eine Strafanzeige bleibt folgenlos. Zwei Jahre später verkauft die Feldmüller ihre letzte Obergiesinger Parzelle und verlässt den Ort. 1854 stirbt der Ehemann. Einen Monat später pachtet sie gemeinsam mit ihrem Vetter ein Bräu- und Wirtsanwesen in Eggenfelden. Zwei Jahre darauf kauft sie ein Haus in Schwabing, sie stellt Antrag auf Ansässigmachung und Eheschließung mit dem Vetter. Beides wird von Amts wegen abgelehnt wegen „schlechten Leumunds“, Überschuldung und Urkundenfälschung. Als die Liaison zum Vetter in die Brüche geht, verlieren sich die Spuren der Therese Feldmüller. Sterbedatum unbekannt. Zuletzt finde ich noch den schönen Satz: „Man sagt ihr ein wechselhaftes Leben nach.“ – Vielleicht ist Giesing ja gentrifizierungsresistent, weil es das alles schon hinter sich hat.
Fotos: Franz Kimmel