Man erzählte uns, im Schatten der Bavaria seien Palmen gewachsen. Wir kehren zurück zum Ausgangspunkt unserer Expedition, dorthin wo die Suche nach der verborgenen Sängerin begann. Sechs Monaten sind seither vergangen. Sechs Monate, in denen sich einiges verändert hat und manches nicht mehr ist, wie es war. Normalerweise könnten wir um diese Jahreszeit, Ende August, keinen Fuß auf die Theresienwiese setzen. Die riesigen, mehrere Tausend Biertrinkende fassenden Oktoberfesthallen wären längst errichtet. Süßkrambuden, Geisterbahnen, Karussells, Klos, Fahrgeschäfte und der brüllende Löwe von Löööwenbrääuuuu. Das gesamte Gelände von der Paulskirche bis zum südlichen Bavariaring wäre abgeriegelt und bewacht. Im Vorfeld des größten Volksfests der Welt sollte niemand in Versuchung geraten, Explosives zu verstecken. Normalerweise. Doch normalerweise gilt nicht mehr. Das Oktoberfest ist abgesagt. Im ersten Jahr der Plage wachsen Palmen. Die Bavaria lächelt monalisahaft. Endlich einmal nach 170 Jahren das passende Ambiente für ihr schulterfreies Kleid! Und aus der Theresienwiese ist nun wahrhaftig eine Wiese geworden.

Kniehohe Büsche, Wegwarten, wilde Kamille, Gräser, ungebändigtes Kraut. Die neue Wiese gibt sich als struppiges räudiges Ding in blassem Grün und Braun, Punk mehr als Rasen, Testgelände. Wäre ich pflanzenkundig, könnte ich den Bewuchs hier lesen wie eine Wahrsagerin das Innere einer Hand. Pflanzen wissen oftmals mehr als Menschen. Sie wachsen und blühen gerade dort, wo ihre jeweilige Pflanzenkraft benötigt wird, und sie flüstern, wenn man ihre Sprache versteht, von dem, was zu viel und zu wenig ist an einem Ort, von Möglichkeiten, die vernachlässigt wurden. Möglichkeiten der Entfaltung und Freiheit und des kollektiven Glücks.

Foto_by_Franz-Kimmel



Unter den Palmen liegen Leute im Sand, Strandleben, Urlaubsatmosphäre, heitere Gesichter. Die Theresienwiese träumt, sie sei in diesem Sommer eine Bucht am Meer. Elf Palmen und ein Trampolin für Kinder. Die kleinen Köpfe hüpfen hinter der umrandenden Plane auf und ab. Ein Klettergerüst im Sand, Jugendliche üben Balancieren. „Power is nothing without control“ steht auf einem Transparent. Zwei Mädchen schlagen Räder. Auf den asphaltierten Wegen Spiele: Hüpfspiele, bunte Kreidemalereien, farbige Steine, Tic-tac-toe, Steinmikado, 17+4; suche dir bis zu drei Mitspieler*innen. Kindergezwitscher und das helle Klingeln von Fahrradglocken. Es wird Fußball gespielt, Basketball und Rollschuhhockey, es wird gejoggt, geskatet, geschlendert und geplaudert, Handstände gemacht und Judo trainiert. Alle möglichen Arten von Sport und sportlichen Übungen und Vergnügungen und funktionslosem Tun. Einige Jungs stürzen sich auf ihren Rädern halsbrecherisch und mit Kriegsgeschrei die steile Wiese neben den Treppen zur Ruhmeshalle hinunter, „WOLAHA BIBIIEE!!“

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Rechts von der Bavaria das Corona-Drive-In-Testcenter. Ein paar Notfallzelte, Absperrgitter, wenig los. Als Reminiszenz an das, was nicht stattfinden wird, ragt ein einzelnes Mandelhäuschen aus dem Steppengras. Hänsel und Gretel in der Serengeti. Aber bitte Hände desinfizieren vor der Lebkuchenknusperei. Zwei junge Mädchen in langen schwarzen Gewändern und wehenden Kopftüchern fahren auf weißen Fahrrädern vorbei. Ein Mann lässt einen Drachen steigen. Hier und da wurden Pflanzkübel aus Beton aufgestellt mit bunten Blumen darin und Stühlen davor, genutzt als Leseecken. Das zivile Leben braucht Raum. Hier ist er! Ich, die ich Massenveranstaltungen kein bisschen liebe, fühle mich geborgen in der friedlichen Weite des fast leeren und doch belebten Platzes.

Als Kind besuchte ich das Oktoberfest zusammen mit meinen Eltern und deren Münchner Freunden zum ersten Mal im Jahr des Bombenattentats. 1980. Am Tag danach. Ich erinnere mich an die Glasscherben einer öffentlichen Uhr in unmittelbarer Nähe des Papierkorbs, in dem die selbstgebastelte Bombe am Abend zuvor hochgegangen war. Obwohl sieben Personen noch am Ort und fünf weitere an ihren schweren Verwundungen starben, und es 213 Verletzte gab, wurde das Volksfest, ohne inne zu halten, fortgesetzt. Der Anschlag gilt als schwerster rechtsextremer Terrorakt der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ich war damals 13 Jahre alt, an den Hintergründen noch wenig interessiert. Der Anblick der Glasscherben auf dem asphaltierten Boden ist mir geblieben, das Bild der kaputten Uhr. Und ein irgendwo in meinem Körper lauerndes Unbehagen bei jeder Art von Großveranstaltung und Massenevent. Die Fahrgeschäfte wirbelten die zahlenden Fahrgäste umher, Achterbahnen, Autoscooter, Riesenrad, in den Zelten wurden Maßkrüge gestemmt, der Betrieb ging einfach weiter als sei nichts geschehen, und die Erwachsenen amüsierten sich und wollten uns Kindern Gutes tun. Vielleicht sprachen sie vom Attentat, stellten Vermutungen an, ich weiß es nicht. Ich denke aber doch, dass hinter allem Reden und sich Amüsieren und so tun als ob, die Angst mitschwang, Beklommenheit, Betroffenheit. Einen Tag früher hätte es womöglich uns erwischt. Heute wundere ich mich, wie vergnügungslustig man darüber hinweg gegangen ist.



Im Staub liegt ein verlorener Mundschutz, das sieht man jetzt öfter, sie treten sich fest, neue Erdschichten entstehen aus Polyethylen. Die Sonne neigt sich gen Abend. Die jungen Radlerinnen mit den wehenden Schleiern drehen eine weitere Runde über den Platz und fahren Schlangenlinien, Zickzack, Kreisel. Ich glaube, sie war hier. An einem anderen Tag als Franz und ich, wir haben sie verpasst. Aber irgendwie auch nicht. Es ist so friedvoll um uns herum, so offen, frei, so schön. Die Luft ist rein von Aggressivität. Die Theresienwiese lässt alle Veränderungen über sich ergehen wie ein geduldiger Elefant. Ich möchte mir einbilden, dass dies geschieht mit den Orten, an denen sie gewesen ist, an denen die verborgene Sängerin ihre Stimme mit dem Wind und dem wachsenden Gras verwob und sang.

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Fotos: Franz Kimmel

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