„Historisch betrachtet haben Pandemien die Menschen gezwungen, mit der Vergangenheit zu brechen und sich ihre Welt neu vorzustellen. Diese Pandemie ist nicht anders. Sie ist ein Portal, ein Tor zwischen einer Welt und der nächsten. Wir können wählen, durch das Tor hindurch zu gehen und die Kadaver unserer Vorurteile und unseres Hasses, unserer Habsucht, unserer Datenbanken und toten Ideen, unserer toten Flüsse und des versmogten Himmels mit uns zu schleppen. Oder wir gehen leichtfüßig, mit wenig Gepäck, bereit, uns eine andere Welt vorzustellen. Und bereit, dafür zu kämpfen.“ (Arundhati Roy)
Das muss verwirrend sein für Fremde: Einer der zentral gelegensten öffentlichen Plätze der Stadt trägt keinen eindeutigen Namen, sondern zwei Namen. Einen Namen, der offiziell angeschrieben ist, und einen, den alle sagen, die man fragt. „Entschuldigen Sie, wo geht es zum Karlsplatz?“ – „Zum Stachus? Immer geradeaus.“
Die Redensart, dass es irgendwo zugehe wie am Stachus, ist den deutschen Wirtschaftswunderjahren der Nachkriegszeit geschuldet, als sich der Stachus zu einem der verkehrsreichsten Plätze Europas entwickelte. Erst nachdem im Vorfeld der Olympischen Spiele die Straße vom Marienplatz zum Karlstor in eine Fußgängerzone umgewandelt worden war und das Stachus Untergeschoss, vier Stockwerke Verkehrsfläche unter der Erde, als zukunftsweisendes Einkaufszentrum entstand, wurde es oberirdisch etwas ruhiger. Aber nicht sehr. Der Autoverkehr fließt noch immer vierspurig, Trambahnen biegen zum Hauptbahnhof ab, Fußgängerpulks und Radfahrende queren den Ampelübergang beim Justizgebäude. Will man von der einen Seite der Fahrbahn auf die andere gelangen, benötigt man zwei Grünphasen. Die Sommerferien haben Tourist*innen und Einheimische in die Innenstadt gespült, in der Fußgängerzone herrscht wieder Geschäftigkeit. Nur ein kleines, an den Handgelenken der Einkaufenden baumelndes, in diesen Tagen unverzichtbares Accessoire zeigt an, dass auch wir, wie der Platz, an dem wir uns befinden, ein doppeltes Gesicht tragen. Wir sind Gefährdete und Gefährder zugleich. Jeder Einkaufsbummel ein Maskenball, ein doppeltes Spiel. „Wo geht es zum guten Leben?“ – „Ende des Anthropozäns? Immer geradeaus.“
Im Mittelalter befand sich an der Stelle des heutigen Stachus ein Stadttor, draußen vor dem Tor ging es ländlich zu. Schräg gegenüber, wo seit vergangenem Monat das große Kaufhof-Haus unter Insolvenzverwaltung steht, wurde im 18. Jahrhundert in einem Gastgarten Bier ausgeschenkt. Der Wirt hieß Mathias Eustachius Föderl, „Eustach“ genannt, woraus der Gasthofname Stachus entstand und letztlich der Name des gesamten Platzes. „Auf, geh ma zum Stachus!“ – Synonym für Essen und Biertrinken. Seinen zweiten Namen erhielt der Stachus vom Kurfürsten Karl Theodor, der das Stadttor Ende des 18. Jahrhunderts umgestalten ließ. Aus dem Neuhauser Tor wurde offiziell das Karlstor und aus dem Platz davor der Karlsplatz. Geschichtsschreibung von oben, Herrschaftsgeschichte, und Geschichtsschreibung von unten, oral history, halten sich am Karlsplatz/Stachus bei jeder Ansage des S-Bahn-, U-Bahn-, Trambahn-Halts bis heute die Waage.
Für einen Auftritt der verborgenen Sängerin wäre es am Stachus jedoch viel zu laut. Wer würde sie bei solchem Trubel hören? Der Springbrunnen rauscht, der Autoverkehr braust, die Tauben gurren, aus den halbgeöffneten Wagentüren der wartenden Taxis tönen Funksprüche, Fahrradbremsen quietschen, McDonalds Tüten platzen, Lärm von Baustellen und Maschinen. Das ganze Viertel, von der platt gemachten Hauptbahnhofempfangshalle bis zum abgerissenen Hotel Königshof, gleicht einer offenen Wunde im Stadtbild, oder vielmehr einem Stadtkörperteil, das von Wundgeschwüren und rotweißen Sperrgeländern übersät ist. Was geschieht hier eigentlich? Auf einem Stapel umgefallener Absperrgitter sitzen inmitten des Stachusgetöses zwei Männer unterschiedlicher Hautfarbe mit jeweils einem dicken Buch auf den Knien. Taub für die Umgebung sind sie versunken in ihr Gespräch. Der eine trägt ein weißes T-Shirt mit der Rückenaufschrift „Jesus liebt dich“. – Ob beten hilft? Aber beten wofür? Dass die Wunden heilen mögen, dass neue, höhere, schickere, luxuriösere Hotels und Erlebnisbahnhöfe mit noch größeren Shoppingmalls entstehen werden? Beten für neue Wirtschaftswunder? Oder dafür, dass wir in der Zweiten Welle, die von den Auguren des Virenflugs prophezeit wird, nicht untergehen?
Fotos:Franz Kimmel