In einer Münchner Kunstgalerie gab es kürzlich ein Virtual-Reality Projekt zu sehen bzw. zu erleben. Zusammen mit einer zweiten Person konnte man in eine digital gestaltete Landschaft eintauchen und dort sowohl miteinander interagieren als auch in Wechselwirkung zu der sichtbaren Umgebung treten. Meine Erfahrungen mit Datenbrillen sind etwas veraltet und stammen aus der Zeit der Anfänge dieser Technologie. Ich war neugierig auf den aktuellen Stand der Technik, auf das künstlerische Konzept, auf dessen Umsetzung.
Auf dem Boden der Galerie waren zwei Flauschteppiche ausgelegt zur Markierung des jeweiligen Aktionsradius der beiden Akteure. Doch an dem Tag funktionierte das Zusammenspiel der Datenbrillen nicht. Zumindest aber konnte ich mich selbst im virtuellen Raum erleben. Zuerst in einer Demo-Version, die standardmäßig mit dem Programm vom Hersteller mitgeliefert wird. Dann im virtuellen Raum der Galeriekünstlerin. Neben der verkabelten Datenbrille, die helmartig auf dem Kopf sitzt – an den Ohren werden Kopfhörer-Muscheln heruntergeklappt – hält man in jeder Hand einen „Knüppel“, eine Steuerung aus Plastik. Im virtuellen Raum sieht man dadurch zwei Hände, in der Demoversion zwei schwebende weiße Hände, die meinen realen Handbewegungen folgen, beweglich sind nur die Daumen. In der Version der Künstlerin gehören zu „meinen Händen“ auch zwei hellblaue Arme. Ich kann die Hände heben, die Arme austrecken, aber ich kann nicht greifen. Ich kann mich selbst um die eigene Achse drehen, mich umsehen im virtuellen Raum. Vorne sind Berge. Über mir fliegt ein Vogel vorbei und wirft einen Schatten. Durch Betätigung der Steuerung kann ich mich „teleportieren“, das heißt von einer Stelle im Raum zu einer anderen gelangen. Es erscheint eine gestrichelte grüne Linie wie ein hoher Pissbogen von meinem unsichtbaren Unterleib ausgehend bis zu der Stelle, auf der ich mich gleich wiederfinde.
Der echte Raum hört auf zu existieren
Der echte Galerieraum hört auf zu existieren. Meine echten Hände spüre ich kaum mehr und bin fixiert auf die Bewegungen der virtuellen Hände. Meine Gefühle wechseln mit Aufsetzen des Datenhelms in die Realität des Digitalen. Würde dort ein Gegenstand in meine Richtung geschleudert, würde ich erschrecken, mich wegducken, ausweichen, während mein Körper auf dem Flauschteppich blind und taub geworden ist. Würde mir jemand auf dem Teppich ein Hindernis vor die Füße stellen, ich würde es bis zum Zusammenstoß nicht bemerken.
Im Virtuellen bleibt mein Bewegungsradius begrenzt. Sobald ich an die Kante des Spielfelds gerate, meine Fußspitzen sich dem Teppichrand nähern, erscheint vor meinen Augen ein Zaun aus grünen Gitternetzlinien. Unwillkürlich halte ich in der Vorwärtsbewegung inne. Einmal strecke ich die Hand aus, jenseits der Gitternetzlinien verschwindet die Hand. Auf die Idee, das Experiment auf eine Ganzkörpererfahrung auszuweiten, komme ich nicht. Mein Instinkt sagt: Stopp. Ich bleibe gehorsam auf dem Teppich. Ich wage mich nicht über die virtuelle Grenze hinaus.
Gegen den Apparat spielen
Der Philosoph Vilém Flusser sagte einmal sinngemäß, in einer Welt der Apparate, könne Kunst nurmehr darin bestehen, die Apparate gegen ihre Bestimmung zu benutzen. Ironischerweise bestand mein Erlebnis des Kunstprojektes nun genau darin: es gegen seine Bestimmung zu erleben, in einem nur halbwegs funktionierenden Zustand. Eine Weile irrte ich in der Demo-Version umher, während die Galeristin versuchte, das System, wie von der Künstlerin geplant, zum Laufen zu bringen. Dann wechselte ich die Datenbrille und irrte in der Galerieversion umher, alleine und ohne Interaktionspartnerin.
Eindrücklich haften blieb die Erfahrung der virtuellen Grenze, einer Grenze, die es eigentlich nicht gibt, und die ich trotzdem instinktiv zu überschreiten mied. Kein neues Gefühl, hier nur als visuelle Metapher vorgeführt. Wie oft gerät man in soziale Situationen, in denen unausgesprochene Grenzen partout nicht übertreten werden. Wie oft unterlässt man nächste Schritte, aus der Furcht heraus – ja, was? – ausgelöscht zu werden? Nicht mehr zu existieren? Ein rein psychisches Konstrukt, dem in den allermeisten Fällen keine physische Realität entspricht. Genauso wie die Gitternetzlinien, die ich mittels Datenbrille sehe, keine tatsächliche Grenze meiner Bewegungsmöglichkeit bilden, keine echte Mauer, keinen Zaun, keinen Graben. Und doch ziehe ich den Fuß zurück.
Die Galeristin erzählte, am Tag zuvor sei ein Mann da gewesen, ein Arzt, der Erfahrung mit VR besaß aus dem Training für Katastrophenfälle. Er berichtete, Ärzte könnten zum Beispiel mittels Simulation von Zugunglücken – Chaos, Tote, Verwundete, schockierende Anblicke, schlechte Sicht, etc. – ihre eigenen Reaktionen testen und würden auf die Weise für den Ernstfall geschult.
Ohne Zweifel werden heute auch Militärs mittels VR für die Kriegsführung und das Töten geschult. Die Technik ist heikel, weil überaus manipulativ. Der Gründer von facebook, Mark Zuckerberg, baut bereits am „Metaverse“, einem ganzen Universum aus Virtualität. Dem Zufall wird darin nichts mehr überlassen bleiben. Wie schulen wir uns für diesen Ernstfall?
Rote Linien haben derzeit Konjunktur
Bei einem herbstlichen Demonstrationszug in Thüringen trugen die Demonstrierenden ein großes Banner vor sich her, darauf stand: „Wir sind die rote Linie“. Es gab auch Plakate mit „Wir sind das Volk“. Eine etwas vermessene Behauptung angesichts der Größe der Demo. Das Volk von was? Die behauptete rote Linie wirkte, bei einem Zug, der sich durch die Stadt bewegt, wie ein verquerer Gedanke. Rote Linien besagen üblicherweise: Bis hierher und nicht weiter. In dem Fall schien die rote Line wie eine Suchbewegung von Menschen, die nicht wissen, wo sie hingehören, von Leuten, die ihren roten Lebensfaden verloren haben. Der Demonstrationszug wirkte wie die temporäre Errichtung einer Miniatur-DDR, einem virtuellen Land hinter einer Mauer, begrenzt von einer gefährlichen roten Linie, die das Eindringen von „Volksfeinden“ verhindern soll. Ich sah das Foto der Demo in der Zeitung und dachte, der Begriff der roten Linie hat gerade Konjunktur. Demarkationslinien, die gezogen werden, weisen Richtung Krieg. Und Kriege, Kalte Kriege, Freund-Feind-Systeme, hinterlassen Demarkationslinien in der menschlichen Psyche. Unantastbaren Angstgrenzen mit ähnlicher Wirkung wie die von einer VR-Umgebung simulierten Haltelinien.
Die virtuelle Technik, sofern sie nicht im Flusserschen Sinne gegen ihre Bestimmung operiert, bildet im Grunde ein vor-neuzeitliches Bewusstsein ab. Die aus Polygonen, Pixeln und Algorithmen gebaute Welt digitalisiert die Vorstellung, die Erde wäre eine Scheibe. Gerät man über den Rand der Scheibe, fällt man ins Nichts und erlischt.
Auch traumatisierte Personen kennen solche Ängste. Traumata gehen aus Grenzverletzungen hervor. Missbrauch, Gewalt, selbst die Androhung von Gewalt und verbale Gewalt verletzen die schützende Hülle, den ursprünglich heilen Kokon des Ichs. Das in seiner Intaktheit verletzte Ich fühlt sich hilflos, ohnmächtig. Zur Wiedererlangung von Schutz und Sicherheit, zur Vorbeugung weiterer Grenzverletzungen, rammt es nun seinerseits Grenzpflöcke ein, errichtet Mauern, zieht rote Linien. Die es gleichzeitig aus Motiven der Selbstermächtigung immer wieder willkürlich durchbricht. Das macht die Kommunikation und Interaktion über die Linie hinweg diffizil.
Wer dagegen die eigenen Grenzen kennt, kann, ohne Schaden zu nehmen, und ohne Schaden zu verursachen, seine Grenzen verhandeln (auch mit sich selbst). Wer um die eigenen Grenzen weiß, spürt rechtzeitig, in welchem Fall es geboten ist, nicht weiter zu gehen. Integrität nennt man das.
Wäre ich Gestalterin und Programmiererin virtueller Welten, würden mich die Schnittstellen zwischen analog und digital am meisten interessieren. Ich glaube nämlich, dass es genau dieser schmale Grat ist, der über das Vermögen, Integrität zu bewahren, zukünftig bestimmen wird, und den aufzulösen, unkenntlich und unspürbar zu machen, wie es die Erbauer des Metaverse träumen, fatal ist.
In Kinofilmen binden sich manchmal Filmfiguren, die nicht einschlafen dürfen, weil sie Wache halten, dünne Schnüre an die Fußzehen oder Handgelenke und verknoten das andere Ende der Schnur am Griff der bewachten Zimmertür. Alter Agententrick. Vielleicht sollten wir gelegentlich unsere Smartphones an Bäumen festbinden. Oder unsere Daumen an Grashalmen. Und eine Diestel auf den Teppich legen, wenn wir den Datenhelm aufziehen.