Der iranische Filmemacher Jafar Panahi und seine Tochter, die Schauspielerin Solmaz Panahi, sitzen im Auto und warten auf eine Freundin der Tochter, mit der sie verabredet sind, die Theaterproduzentin Shabnam Yousefi. Sie wollen zusammen in ein kurdisch-iranisches Dorf fahren. So beginnt der Kurzfilm Hidden, auf deutsch Die versteckte Stimme, aus dem Jahr 2020. Ausgangspunkt der Fahrt ist die Stadt Mahaba im Nordwesten des Irans, im Distrikt West-Aserbaidschan. Panahi und seiner Tochter filmen mit ihren Handykameras. Während der Fahrt berichtet die Theaterproduzentin von einem Projekt, dass sie mit jungen Laienschauspielerinnen plant. Auf der Suche nach einer passenden Sängerin wurde ihr ein Mädchen empfohlen, das aus dem Dorf stammt, in das sie nun fahren. Das Mädchen habe eine unglaubliche Stimme. Sie habe sie singen gehört und wolle sie bei ihrem Projekt unbedingt dabeihaben, sagt die Theatermacherin. Das Mädchen würde auch gerne mitmachen, habe aber gezögert. Erst allmählich stellte sich heraus, dass ihre Familie der wahre Grund des Zögerns ist.
Das Dorf liegt unweit von Mahaba. Zwischen Stadt und Land liegen jedoch Welten. Modernes Leben, Weltgewandtheit in Person des Regisseurs und der beiden jungen Frauen einerseits, nur wenige Kilometer entfernt dagegen ländliche Kargheit, vormoderne Traditionen. Die Theaterproduzentin sagt, in den Dörfern sei es immer noch üblich, dass Mädchen beschnitten werden. „Hier auf den Dörfern“, sagt sie, „heiraten die Leute ihre Cousins, sie kennen sich alle untereinander“. Sie selbst stammt ebenfalls aus der Gegend. Lachend erzählt sie, auch heute noch, als erwachsene Frau, komme ihr in Situationen, in denen sie laut lache, die eigene Großmutter in den Sinn. Sie hört sie dann wieder mahnen: „Eine Schande ist das, Mädchen dürfen nicht lachen und ihre Zähne zeigen!“
Nach Abbiegen von der Hauptstraße sind die Straßen nicht mehr asphaltiert. Die Häuser sehen ärmlich aus, einstöckige Backsteinbauten, hohe Mauern aus Stein, gelegentlich ein rostiger Wasser- oder Benzintank vor der Mauer. Ocker, Erdtöne, sonnengebleichte Landschaft, etwas Grün sind die vorherrschenden Farben. Sie erreichen das Haus der Familie der Sängerin. Eine rundliche Frau fegt in gebückter Haltung mit einem Handbesen den Vorplatz. Quer über den Vorplatz bis zum Haus gegenüber ist eine Wäscheleine gespannt. Ein schöner großer Baum mit dunkelgrünen dichten Blättern steht direkt neben dem Hauseingang und spendet seinen Schatten.
Die Theaterproduzentin steigt aus dem Wagen und spricht zunächst allein mit der Frau, die anderen beiden warten im Auto und schauen ihr zu. Die rundliche Frau zeigt ein freundliches Gesicht, lächelt sogar. Sie wirft den Besen zur Seite, geht ins Haus, nicht ohne am Eingang die Schuhe abzustreifen. Nach ein paar Augenblicken kommt sie wieder heraus, schlüpft in die abgestellten Schuhe, überquert die Straße und eilt ins Haus gegenüber. Die Tochter, die mit der schönen Stimme, befindet sich im ersten Haus, die Theaterproduzentin hat einen kurzen Blick auf sie erhascht. Die rundliche Frau kommt zurück, trägt ein weißes Stoffbündel in der Hand und geht ins erste Haus. Wieder vergehen einige Minuten, dann erscheint die Frau im Hauseingang, winkt, gibt Erlaubnis einzutreten.
Der Raum, den sie betreten, entspricht dem ärmlichen Äußeren des Hauses. Wände, von denen der mehrfach überstrichene Kalkputz blättert. Ein dunkelroter, abgenutzter persischer Teppich bedeckt den Boden. Die rundliche Frau sitzt hinter einem weißen Bettlaken, das als Sichtschutz vor die linke Seite des Zimmers gehängt wurde. Das weiße Stoffbündel von vorhin. Man sieht nur die bäuerliche Hand, die das Laken einige Zentimeter zur Seite schiebt, während die hinter dem Betttuch verborgene Frau spricht. Ein Mann ist schließlich mit im Raum. Von ihrer Tochter, vermutlich ebenfalls hinter dem Laken sitzend, ist noch nicht einmal ein kleiner Finger zu sehen. Die drei Gäste knien auf dem Teppich, der Filmemacher filmt mit dem Handy. Die Theaterproduzentin hatte gehofft, der Besuch des international bekannten Regisseurs könnte die Familie umstimmen.
Die Theaterproduzentin übersetzt: „Sie gibt uns nicht die Erlaubnis, das Gesicht ihrer Tochter zu sehen oder sie zu filmen. Es liegt am Vater, er will es nicht gestatten, weil die Frau des Mullahs die Stimme der Tochter gehört und gesagt hat, wenn die Jungen im Dorf sie singen hören, würde die ganze Familie verflucht werden, es wäre eine große Sünde… Deshalb können wir sie nicht singen sehen. Ich habe deutlich gemacht, dass du [der Filmemacher] älter bist, dass du nicht aus dem Dorf kommst, dass deine Tochter dich begleitet, dass du von weither kommst. Aber trotzdem will sie uns die Erlaubnis nicht erteilen.“
Der Filmemacher resümiert, unter diesen Umständen könne das Mädchen nicht am Theaterprojekt teilnehmen. Die Gäste bitten die Kurdin, ob sie das Mädchen nicht wenigstens kurz singen hören dürfen. Die Kamera schwenkt auf das Bettlaken. Die Frau dahinter sagt, das Mädchen würde erlauben, dass die Gäste sie hören, aber ihr Gesicht filmen dürfen sie nicht.
Man sieht das Laken, einen gelblichen Fleck auf dem Laken, den seitlichen Holzpfeiler, an dem es befestigt wurde. Niemand spricht. Von draußen Hühnergackern und Vogelgezwitscher. Dann geschieht etwas vollkommen Unerwartetes. Die Stimme des Mädchens, das sich nicht zeigen darf, ertönt. Ein Gänsehaut-Moment! Mit dem ersten Ton setzt sich diese Stimme über alles hinweg, was zuvor gesagt, gezeigt, verhandelt, angenommen wurde, über das Laken, das Dorf, die Unfreiheit der Frauen, über das ganze Land und dessen Gesetze, die geschriebenen wie die ungeschriebenen. Die Stimme singt ein Lied in einheimischer Sprache, ein Lied, das nichts gemeinsam hat mit Liedern, die scheue Mädchen singen. So kraftvoll, klar, gellend, leise, laut und stark und von tatsächlich schamloser Schönheit. Der überwältigende Gesang entblößt den eigentlichen Skandal, die eigentliche Sünde, die hier versteckt gehalten werden soll. Die Sünde der Unterdrückung. Der kleine Raum droht zu zerspringen vor dieser weiblichen Stimme. Es ist die Stimme nicht eines Mädchens, sondern einer reifen selbstbewussten Frau. Die Stimme der Zukunft, die nicht aufzuhalten sein wird, nicht vom Mullah, nicht von der Frau des Mullahs, nicht von den Vätern, Brüdern und hörigen Müttern. Die Töchter werden sich erheben und singen. Sie werden ihre Gesichter und ihre Zähne zeigen, lachen und großartig sein.
Meine Weihnachtskantate 2021: Der Film „Hidden“ auf YouTube