In ihrem vor genau hundert Jahren veröffentlichten Zukunftsroman „Die Feuerseelen“ beschäftigte sich Annie Francé-Harrar bereits mit der Umweltzerstörung durch mangelnde Ressourcenwirtschaft. Sie war eine frühe Öko-Kassandra, aber eine, die es nicht bei Warnungen beließ, sondern zugleich über Lösungen nachdachte und an deren Umsetzung mitwirkte. Nach dem Tod ihres Mannes setzte sie die gemeinsame Arbeit unermüdlich fort, konzentrierte sich auf das Thema Humus, leitete 1945 die Errichtung einer Humusstation zur Umwandlung städtischen Mülls in Budapest, Vorläufer moderner Kompostieranlangen.

Zwei Jahre später zieht Annie nach Wien, von dort nach Seewalchen am Attersee. Dort schreibt sie ihr bekanntestes Buch „Die letzte Chance – für eine Zukunft ohne Not“. Albert Einstein, mit dem sie korrespondiert, bewundert die „Fülle des Wissens, die Darstellung so mannigfaltiger Zusammenhänge zu einem Ganzen“ und meint, das Buch verdiene einen dauernden Platz in der Weltliteratur. – Warum erwähne ich das? Müssen noch immer berühmte Männer herhalten, um das Werk einer Frau zu adeln und ihre Aufnahme in den Olymp der Erinnerten zu legitimieren? Genügt nicht der Blick auf den steinigen ausgezehrten Boden eines Ackers in Obermenzing, um der gemütlich aussehenden Frau mit der runden Brille Gehör zu schenken?

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„Keine Kolonialwirtschaft war je etwas anderes als Raubbau“, schreibt sie. „Bis zu der Einsicht, dass man Humus mit Humus ersetzen müsse, war auch keine Landwirtschaft etwas anderes als Raubbau.“ Aus den Erkenntnissen der mikrobiologischen Bodenprozesse entwickelt Annie Francé-Harrar Verfahren zur Humusbildung. Sie beschäftigt sich mit Lithobionten, Organismengruppen, die imstande sind, Steine zu humifizieren. Sie entwickelt sogenannte Kompostierziegel und den organischen Kompostierbeschleuniger Petrofil. „Kompost,“ schreibt sie, „ist ein Zufallsergebnis einer meist mangelhaften Verrottung.“ Humus dagegen bedeutet Transformation.

Es hilft zu wissen, dass es verschiedene Arten von Humus gibt. Zum einen den Nährhumus, die dünnste oberste Schicht des Bodens. Das ist die Erdschicht, die wir Gärtnerinnen und Gärtner düngen, um schöne große Hokkaidokürbisse zu ernten. Das ist die Art zu denken, die der fatale Fortschrittsglaube lehrt: größer, schöner, schneller, mehr. Es geht um Erträge, um dicke Kohlrabi und voluminöse Kohlköpfe, um Nehmen, selten darum, etwas zurückzugeben, darum, dass der Boden ebenfalls Nahrung benötigt und nicht nur Dünger. Denn tiefer unter der dünnen, schnell aufgezehrten Nährhumusschicht liegt der Dauerhumus, das eigentliche Kapital unseres Planeten. Dies ist das Reich der schwerer zersetzbaren organischen, strukturgebenden Substanz, der Nährstoffspeicher der Erde, Wasserspeicher auch, hier wird Kohlenstoff gebunden, CO2, hier ist die Erde satt und reichhaltig und wahrhaft nährend. Muttererde, Urgrund, fruchtbarer Schoß usw. Doch die Dauerhumusschicht schwindet. Lange schon, weltweit.

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Auf dem Acker in Obermenzing haben ein paar Frauen des Vereins, der den Krautgarten in Eigenregie verwaltet, einen Versuch gestartet und einen Heißkomposthügel gebaut. Ein Heißkompost ist wie Backen für die Natur. Man nehme… Verschiedenste Zutaten, die der Garten hergibt, Grünzeug, Rasenschnitt, kleingeschnittene Äste, vegetarische Küchenabfälle, Kalkhaltiges in Form von Eierschalen, Laub, Kaffeesatz, dazu einen Sud aus diversen Kräutern und als besondere Zutat Tonminerale und Urgesteinsmehl, etwas Kompost vom Vorjahr, auch braune kleingerupfte Pappe mögen die Bodenorganismen sehr. Schicht für Schicht aufstapeln, wässern, umrühren, heißt mit der Mistgabel mehrfach durchmischen. Dann abdecken mit Schafswolle oder anderem unbehandelten Dämmmaterial. Plane drüber, unten soll noch Luft reinkommen. Innerhalb von zwei Tagen entwickelt ein solcher Hügel eine Eigentemperatur von ca. 65 Grad. Bestes Klima für Zersetzungsprozesse.

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Verwesung und Zersetzung also. Zuerst kommen die vergleichsweise großen Tiere, Insekten, Würmer, Käfer, Maden, Milben, fressen, nagen, verdauen, anschließend übernimmt das kleinere Getier und was man nicht mehr als Getier mit bloßem Auge erkennen kann. Ein Fest der Vielfalt, des millionenhaften Wimmelns, Herfallens, Aufspaltens, Umwandelns durch die Lebensgemeinschaft und Zusammenarbeit der verschiedensten Bodenorganismen. Annie Francé-Harrar kennt sie wie gute Freunde, sie hat sie im Mikroskop beobachtet, hat sie gezeichnet in ihren Bodenbildern. Ein Kosmos wundersamer Wesenheiten. Sie tragen Namen wie Nectria, Phoma, Sphaeria, Phyllosticta, Syzigytes, Koremien, Minilien; Köpfchen-, Pinsel-, Kolben- und Eisschimmel; Bodenpilze, Strahlpilze und Schleimpilze; Muscheltierchen, Rädertiere, Geißelwesen, Glockentierchen; Amöben, Kieselalgen, Bakterien, Symbionten aller Art.

„Wie sie aussehen? Viele stellen glänzende, schwanenweiße, zitronengelbe, gold- bis orangefarbene Perlenbäumchen auf. Sie winden sich gleich Bischofsstäben, sie ballen sich zu rosenroten Himbeeren, sie verflechten sich zu feinstgedrechselten nebelgrauen, wolkenfarbenen, ebenholzschwarzen oder mahagonibraunen Gittern, sie hängen in zartesten Wedeln, sie bringen blüten- und blattähnliche Ornamente hervor.“ (aus: „Die letzte Chance für eine Zukunft ohne Not“)

Man möchte sterben, wenn auch nicht sofort, um so gefressen zu werden, wie in Annie Francé-Harrars Büchern beschrieben. Noch nie habe ich jemanden mit solcher Leidenschaft und begeisterter Hingabe über das Leben nach dem Tod erzählen hören. „Denn Humifizierung und Humus bedeuten – man muß sich das immer wieder sagen ­– ebenso die erste Stufe des Lebens, wie die letzte des Todes.“

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Ich könnte noch lange weiterschreiben, das Thema ist faszinierend. Die Bücher der Annie Francé-Harrar sind es auch. 1952 reiste sie auf Einladung der mexikanischen Regierung nach Mexiko und unterstützte als Beraterin das Land neun Jahre lang beim Aufbau einer Humusorganisation zur Bekämpfung der Bodenverschlechterung und Erosion. Zurück in Europa war sie bis ins hohe Alter als Autorin, Romanschriftstellerin, Vortragende und, heute würde man sagen Umweltaktivistin tätig. Sie starb mit 85 Jahren in Hallein. In Österreich erinnert man sich an sie, in München, wo sie geboren wurde, scheint man sie vergessen zu haben. Aber der Boden unter unseren Füßen hat aufgespeichert, wovon sie sprach, jene verborgene Unterwelt, die niemals Ruhe findet, wo Zukunft und Vergangenheit, Erinnern und Vergessen, eins werden in einem lebendigen Archiv der natürlichen Evolution und der menschlichen Fehltritte.

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Fotos: Franz Kimmel

Der Beitrag nimmt teil am Projekt Frauen und Erinnerungskultur – Blockparade #femaleheritage.

Die Fotos von Annie Francé-Harrar stammen aus dem Ausstellungskatalog „Boden lebt“, herausgegeben vom Oberösterreichischen Landesmuseum, Linz 2016. Weitere Informationen zum Thema Kompostieren und Heißkompost bei Martina Kolarek und die Bodenschafft.

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