„Für Menschen heißt Leben – wie das Lateinische, also die Sprache des vielleicht zutiefst politischen unter den uns bekannten Völkern, sagt – soviel wie ‚unter den Menschen weilen‘ (inter homines esse) und Sterben soviel wie ‚aufhören unter Menschen zu weilen‘ (desinere inter homines esse).“ (Hannah Arendt in „Vita activa“)

Möchte man in diesen Tagen Anfang Dezember in München unter Menschen weilen, ohne in Versuchung zu geraten, ihnen zu nahe zu kommen, ist der Nymphenburger Park ein guter Ort dafür. Das Coronajahr neigt sich dem kalendarischen Ende zu, doch vorbei, so orakeln Wissenschaft und Leute, ist ES noch lange nicht: Die Pandemie, die Beschränkungen, die nicht enden wollenden AHA-Effekte. Seit einem Monat befinden wir uns landesweit in einem Zustand, für den das bilinguale Wort Teillockdown eigens erfunden wurde. Zur Dokumentation für die Nachwelt: Wir dürfen weiterhin shoppen, im Theater sitzen dürfen wir nicht. Wir dürfen öffentlich joggen, heiße Atemluft und Schweißtropfen versprühen. Wir dürfen einkaufen und in Kirchen gehen, aber dort nicht singen. In Bibliotheken Bücher ausleihen, sofern es keine Universitätsbibliotheken sind, dürfen wir ebenfalls nicht. Wir dürfen durch den Nymphenburger Park spazieren, der benachbarte Botanische Garten gilt als Sperrgebiet. In Bayern wurde die Prohibition für Alkohol im Freien verhängt, Kaffee ist noch erlaubt. Weihnachtsmärkte sind abgesagt. Wir dürfen mit maximal zehn Personen, Kinder unter 14 Jahren nicht eingerechnet, vom 23. bis zum 26. Dezember um einen Christbaum tanzen. An Silvester laden wir imaginierte Gäste an den Tisch und trinken ihre Gläser leer. – „Is everybody here?“ „Indeed, they are, yeah. Yes…“ „Sir Tobi, Admiral von Schneider, Mr. Pommeroy and my dear friend Mr. Winterbottom.” „Skol, Miss Sophie.“ „Skol!”

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Miss Sophie und ihre Phantomgäste aus der deutschen Fernsehproduktion „Dinner-for-One“ bescherten mir schon einmal ein unvergessliches Silvesterfest an einem unvergesslichen Jahreswechsel. Es war der letzte Abend des Wendejahrs 1989. Zum letzten Mal verbrachte ich Silvester in meinem Elternhaus, allein mit meinen Eltern. Ich saß auf gepackten Taschen, am Neujahrstag würde ich mit einer Mitfahrgelegenheit nach München reisen, um dort zu studieren, zu wohnen, zu leben, heimisch zu werden.
Nach einem ausgedehnten Abendessen saßen die Eltern und ich im Wohnzimmer vor dem Fernseher und schauten „Dinner-for-One“, vier- oder fünfmal hintereinander. Der 18-minütige Filmsketch wurde zeitversetzt von mehreren Sendern ausgestrahlt. Wir hatten Spaß und lachten, beim vierten Durchgang lachten wir kaum noch, dann wurde der Abend lang. Endlich Mitternacht. Sekt trinken. Am nächsten Morgen ging ich fort. Etwas Neues begann.

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Vielleicht markiert auch der diesjährige Jahreswechsel eine Zeitenwende. Zeiten wenden sich nicht von heute auf morgen. Sie wenden sich langsam, kaum merklich zunächst, dann nimmt der Wendeprozess Tempo auf, wird deutlicher, sichtbarer, allgemein spürbar. Zu den Begleiterscheinungen des Wandels gehören Aufruhr, Empörung, Widerstand, Trauer, Rückzug ins Private, der Gang auf die Straße und der Sturm der Barrikaden, das Auftreten seltsamer Propheten, Meinungsverschiedenheiten, lautstark ausgefochten, es geht schließlich ums Ganze. Einige verlieren jede Empathie, andere solidarisieren sich wie nie zuvor. Ja, es geht ums Ganze, Sicherheit oder Freiheit stehen auf dem Spiel, selten Sicherheit UND Freiheit, dem vermag sich niemand zu entziehen. Wo wählt man seinen Platz in solcher Zeit? Der Orkan senkt seine Lider – eine Schneeflocke torkelt vom Himmel, eine Rotte pechschwarzer Krähen fliegt heißer krächzend auf – wenn der Sturm die Augen öffnet, sieht die Welt bald anders aus.

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Fortsetzung, Folge 26.2

Fotos: Franz Kimmel