„Denn Humus ist die Basis unseres irdischen Lebens, er ist buchstäblich sein Anfang und sein Ende, er entsteht durch Leben, und Leben entsteht durch ihn. Er ist der vielfältigste, verworrenste, erstaunlichste, weiseste und zugleich primitivste Ausgleich zwischen den unzähligen Gestaltungen und den noch unzähligeren Bedürfnissen des Lebens. Er ist die unablässige Verwandlung des Zustands, den wir ‚Tod‘ nennen – und der wirklich auch ohne ihn ‚Tod‘ wäre – in neue, ins Unendliche hinaus geschwungene Lebensketten. So daß durch den Humus nirgends ein wirkliches Ende vorhanden ist, sondern daß es nur Unterbrechungen durch Umstellung nicht mehr voll ausnützbarer Lebensformen gibt, aus denen bündelweise neue Lebensformen hervorgehen. Anfang und Aufhören verwirren sich in ihm in einem feinversponnenen Netz von Zusammenhängen, deren jeder Ursache und Wirkung zugleich ist.“ (Annie Francé-Harrar in „Die letzte Chance für eine Zukunft ohne Not“)

Der Blick geht zum Boden, zu dem, was unter den Füßen ist. Asphalt, Pflastersteine, Beton, versiegelte Erde. Da wächst kein Kraut mehr, allenfalls ein paar Kräutchen in den Ritzen aufgesprungener Bodenplatten und entlang der Bordsteinkanten einige Moose. Würde man noch genauer schauen, sich bäuchlings auf den Bürgersteig legen, aber das macht man natürlich nicht mitten in der Stadt, würden die Steine weiteren Bewuchs aufweisen an Stellen, die uneben, rissig, spröde sind. Winzige Flechten, Mikropilze, Algen, grünliches, gräuliches, gelbliches Zeug. Lithobionten. Das Wort kenne ich, seit ich die Bücher von Annie Francé-Harrar lese. Die Bücher der Schriftstellerin und Bodenbiologin Annie Francé-Harrar lese ich, seit ich mich für Humus und Kompost (was nicht dasselbe ist) interessiere. Und für Kompost interessiere ich mich, seit ich in einem Münchner Krautgarten anfing, Gemüse anzubauen.

Ein Münchner Krautgarten ist eine Dreißig, Sechzig oder Hundert Quadratmeter große Parzelle auf einem Acker in einem außengelegenen Bezirk der Stadt. Gegen eine geringe jährliche Pachtgebühr stellt das städtische Planungs- und Baureferat Münchner Bürgerinnen und Bürgern ein Stück Ackerboden zur Verfügung, jeweils für eine Gartensaison und teilweise bereits bepflanzt, alles bio versteht sich. Eigenhändig Gemüse anzubauen, pflanzen, säen, jäten, hegen, pflegen, beim Wachsen zuschauen, eventuell ernten, macht demütig. Man wird geerdet, im wahrsten Sinne. Der Kreislauf der Natur macht sich evident anhand der Größe der Karotten. Aus Unkraut wird Beikraut. Aus Abfall Leben. Aus Schotterebene wird fruchtbarer Untergrund.

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Im Krautgarten von Obermenzing richten Franz und ich zum Ende der Anbausaison unser Augenmerk auf Fäulnis und Verwesung, auf die Untergrundaktivitäten der Bodenorganismen. Annie Francé-Harrar thront als junge Frau des Fin de Siècle auf dem Komposthaufen. Geboren am 2. Dezember 1886 in München als Maria Anna Mayer, wuchs sie in Schwabing auf, studierte Medizin und Biologie und veröffentlichte 1911 den ersten Lyrikband. 1920 folgte der erste Roman. Ihr Vater war der polnisch-jüdische Maler Alexander Sochaczewski, der in seiner Studentenzeit wegen politischer Aktivitäten gegen die russische Besetzung Polens zu 20 Jahren Exil und Zwangsarbeit nach Sibirien verbannt worden war. Mit 44 Jahren wurde er begnadigt, reiste nach Europa, blieb in München hängen. Sein Aufenthalt dauerte nur ein Jahr.

Die Wende zum 20. Jahrhundert bezeichnet Annie Francé-Harrar in ihrem Erinnerungsbuch „So war’s um Neunzehnhundert. Mein Fin de Siècle“ als „den Beginn einer neuen Weltanschauung, die sich Fortschritt nannte“, und die Welt davor, eine „Welt ohne Maschinen“. Sie heiratete 1911 einen Literaten, über den sonst nichts herauszufinden ist, und verkehrte in der Schwabinger Kunstszene. Kannte Arno Holz, Oswald Spengler, die Schwester Nietzsches, erlebte Auftritte Erich Mühsams und Séancen des Parapsychologen Freiherr von Schrenck-Notzing. In einer Salongesellschaft lernte sie ihren zweiten Mann Raoul Heinrich Francé kennen, Botaniker, Mikrobiologe, Begründer der Biotechnik (Biontik) und Publizist. Er leitete das Biologische Institut, wo Annie bald ebenfalls arbeitete. Gemeinsam forschten sie zur Bodenbiologie. Raoul Francé gilt als Entdecker und Namensgeber des Edaphons – ein Sammelbegriff für die Gemeinschaft der Bodenlebewesen und Mikroorganismen der Erde.

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In den Unruhen der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs und der Bayerischen Revolution müssen Annie und Raoul München Hals über Kopf verlassen. Raouls Name steht auf einer Liste „bürgerlicher Geiseln“. Welche der damaligen Gruppierungen die Liste aufgestellt hatte ist nicht ganz klar. Wahrscheinlich „ein ultra-extremes Grüppchen“ schreibt Francé-Harrar in ihren Erinnerungen. In der Nacht des 28. März 1919 „klopfte es um zehn Uhr abends an die Tür unseres Hotelzimmers. Denn wir wohnten die letzten Kriegsjahre in einem Hotel am Sendlingertorplatz, das es schon sehr lange nicht mehr gibt. Nur dort bestand die Aussicht auf eine einigermaßen menschenwürdige Verpflegung und Beheizung. (Mir blieb zum Hamstern keine Zeit, denn an der Stelle meines Mannes, der sich eine dieser rätselhaften Kriegsinfektionen am Bein zugezogen hatte und Monate hindurch lag, leitete ich die Ausbildung von Röntgenschwestern bei uns am Biologischen Institut.)“
Ein Unbekannter steht vor der Hotelzimmertür, grauer Soldatenmantel, Mütze tief ins Gesicht gezogen, Fäuste in den Taschen. Es ist ein Angehöriger des Arbeiter- und Soldatenrats, der ihre Namen auf der Liste gesehen hatte und sie warnt. Er warnt sie, weil er einen Vortrag Francés gehört und gemocht hatte. Der unbekannte Mann gibt ihnen einen Passierschein, Annie packt die Koffer. Sie gelangen zum Bahnhof, erwischen einen letzten Zug, im Viehwagon fahren sie nach Ansbach, weiter geht es nicht in dieser Nacht. Im Biologischen Institut werden am nächsten Tag die Einrichtung verwüstet und die Apparaturen zerstört. Die nachts festgesetzten Geiseln werden erschossen, zwei fehlen: Raoul Francé und der Maler Franz von Stuck, der ebenfalls die Stadt verlassen hatte. Damit endet die Münchner Zeit der Annie Harrar. Sie nehmen Quartier im fränkischen Dinkelsbühl, heiraten dort 1923 und übersiedeln im gleichen Jahr nach Salzburg.

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Weil man die Hände in die Erde stecken muss, um von der Erde zu lernen, reiste das Paar in den folgenden Jahren rund um die Welt. Afrika, Indien, Australien, Zentralamerika, Florida, die Südsee. Beide, Raoul und Annie, veröffentlichen mit hoher Produktivität Bücher über ihre Reisen und Forschungsergebnisse mit dem Anspruch, Wissenschaft allgemein verständlich und einem breiten Lesepublikum zugänglich zu machen. Wegen Raouls labiler Gesundheit verbringen sie bis 1940 die Sommer in Graz, die Winter in Ragusa, heutiges Dubrovnik. Den Wirren des Zweiten Weltkriegs suchen sie in Ungarn zu entgehen. 1943 stirbt Raoul in Budapest.

„Gebirge, Knochen, Sedimente, Kalkböden, Brot, Fischgräten, Kalkalgen sind alles nur Passagen desselben Kalkkreislaufs. Dasselbe gilt für alle anderen Mineralien, alle Metalle, alle Gase, alle Flüssigkeiten. Stabile Zustände gibt es auf der Erde nicht. Die Umwandlungen dauern nur mehr oder weniger lang, sind mehr oder weniger kompliziert. Leben und Tod sind nichts als Phasen solcher unaufhörlicher Umwandlungen durch Kreisläufe. (…) Humus aber ist die wichtigste Formation des großen Umbaus.“ (aus: „So war’s um Neunzehnhundert. Mein Fin de Siècle“)

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Fortsetzung, Folge 25.2

Fotos: Franz Kimmel

Der Beitrag nimmt teil am Projekt Frauen und Erinnerungskultur – Blockparade #femaleheritage.