Ein großer leerer Platz vor einer großen leeren Stadt. Vor einem Jahr noch empfand ich die ungewohnte Leere und Abwesenheit von städtischer Betriebsamkeit faszinierend, wohltuend sogar. Etwas atmete erleichtert auf in globalen Dimensionen, etwas schien zur Ruhe zu kommen, sich neu besinnen zu wollen. Auf der Theresienwiese wuchsen Palmen. Der Himmel war ein von Kondensstreifen unbeschriebenes Blatt Luftpostpapier. Ich phantasierte von einer Zeitenwende, und der Lockdown nimmt und nimmt kein Ende. Inzwischen blühen schon die Bäume. Unbeeindruckt vom verlängerten Koma des Sozialen faltet die Natur ihre neue Frühjahrskollektion vor unseren Augen auf. Die Kastanien spreizen die noch kleinen grünen Finger, als wollten sie nach Sonnenstrahlen greifen. Weißblühende Kirschbäumchen säumen eine lange menschenleere Fußgängerallee. Die pandemisierte Stadt macht nicht mehr staunen, sondern traurig. Von wegen Frühlingserwachen. Von wegen süße unbekannte Düfte streifen ahnungsvoll das Land. Vor dem St. Josef Altenheim am Luise-Kiesselbach-Platz sitzt eine vereinzelte Seniorin auf ihrem Rollator und scharrt mit den Füßen im Kies. Sich an (fast) alles gewöhnen zu können ist eine verhängnisvoll nützliche Eigenschaft, die wir Menschen mit den meisten Pflanzen und Tieren teilen. Doch ich habe Sorge, dass die Substanz, das unsichtbare Fluidum, das nicht näher bestimmbare Ich-du-wir-du-mir-dir-uns-Gewebe, das jedes Mal stimuliert wird, wenn Leute sich hautnah begegnen, Schaden erleidet, verkümmert zu einem bloßen Gefährdungspotenzial. Wenn es soweit ist, wie werden wir erwachen?

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Franz und ich stehen an einem der verkehrsreichsten Plätze Münchens. Bis vor einigen Jahren floss und staute sich der vielspurige Autoverkehr hier oberirdisch, dann wurde der Mittlere Ring sowie die Zu- und Abfahrt vom und in den Münchner Süden, zum Starnberger See, nach Garmisch-Partenkirchen und in die Berge eine Etage tiefer gelegt und der gesamte Luise-Kiesselbach-Platz untertunnelt. Noch immer fahren auch oberirdisch unentwegt motorisierte Fahrzeuge vorbei, aber das Altenheim hat einen begrünten Vorplatz bekommen, Bänke, Blumenbeete, einbetonierte Schach und Mühle Spielfelder. Eine große Wiesenfläche erstreckt sich bis zur Autobahnauffahrt. Richtung Innenstadt führt eine lärmberuhigende Kirschblütenallee.

Tunnel und Platz tragen den Namen der Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin Luise Kiesselbach. Geboren 1863 in Hanau als Luise Becker, nach Erlangen verheiratet und nach 18 Ehejahren bereits Witwe, wurde Luise Kiesselbach 1909 zu einer der ersten staatlich berufenen Armenpflegerinnen Bayerns. Damals ein Ehrenamt, für das Frauenvereine in Bayern über Jahre hinweg hartnäckig gekämpft hatten. Ika Freudenberg, führende deutsche Frauenrechtlerin, bat Kiesselbach nach München zu ziehen, um Freudenbergs Nachfolge in der Leitung des Vereins für Fraueninteressen anzutreten. Luise Kiesselbach kam der Einladung nach. Ihr sozialpolitisches Engagement beeindruckt bis heute. Sie gründete den Paritätischen Wohlfahrtsverband, wurde 1919 Mitglied des Münchner Stadtrats, baute verschiedene Kinderheime mit auf, setzte sich für die Interessen von Kleinrentnern und gegen Altersarmut ein. Ihre Tochter Gusta war Anfang des letzten Jahrhunderts eine der ersten Medizinstudentinnen Bayerns und legte als erste Frau in Erlangen das medizinische Staatsexamen ab.

Unerwartet starb Luise Kiesselbach im Alter von 65 Jahren. Die Nazizeit und die Einverleibung und Gleichschaltung der von ihr gegründeten sozialen Institutionen und der paritätischen Wohlfahrt musste sie nicht mehr miterleben. In den Nachrufen wird sie als eine Persönlichkeit von „seltener innerer Festigkeit und Klarheit bei aller, Verbundenheit suchenden, Güte ihres Herzens“ beschrieben: „Innerlichst überzeugt von der Frauenbewegung als einer von dogmatischen Bindungen freien Idee, und von der Mission der sozialen Arbeit als eines ohne Ansehen der Klassen, Parteien und Weltanschauungen zu leistenden Volksdienstes, war ihr der überkonfessionelle Charakter Wesenskern ihres Lebenswerkes, mit dem sie in zäher Treue und ohne Kompromisse stand und fiel.“ (Getrud Bäumer, 1939)

Wie oft bin ich gedankenlos im Auto über den Luise-Kiesselbach-Platz gerauscht oder genervt im mehrspurigen Stau gesessen, ohne auch nur die geringste Vorstellung davon, wer diese Frau Kiesselbach eigentlich war, was sie geleistet hat und weshalb einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Stadt ihren Namen trägt.

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Es wäre eine Ehre gewesen, von diesem Platz aus die verborgene Sängerin wieder auferstehen zu lassen. Franz und ich haben monatelang versucht so zu tun, als suchten wir noch nach ihr. Nach ihrem unvermuteten Gesang. Nach der plötzlich aufleuchtenden Poesie einer singenden menschlichen Stimme. Einer Stimme, deren einzige Bestimmung und Berufung es ist, sich für einige Augenblicke zu offenbaren, damit wir Passantinnen und Passanten vom eingeschlagenen Kurs abkommen, zuhören, innehalten, Fühlung aufnehmen mit dem Lied der Lieder von allen Dingen, die da sind, und der Welt, die uns umgibt und niemandem gehört. Sie fehlt, die Kunst, die solche Lieder singt. Es fehlen die Passantinnen und Passanten, die Öffentlichkeit als Raum der Resonanz, das gemeinsame Atmen, das Leben auf den Plätzen usw. Franz und ich spazieren durch eine Geisterstadt und jagen oder sind schon selbst Gespenster. Wir haben den roten Faden verloren und meine Erzählung ihren Stern.

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Die an der Autobahnauffahrt gepflanzten Pappelzöglinge tragen Stützkorsett. Bis sie ausgewachsene Bäume sind, werden Jahre vergehen. Das Tosen und Grollen der Pandemiewellen in den Ohren, wollte ich die ganze Stadt als eine verborgene Sängerin beschreiben. In den letzten Monaten dachte ich sogar manchmal, ich bin es selbst, die im Verborgenen sich räuspert und singt. Aber jede metaphorische Übertragung reicht eben nur so und so weit. Ich bin es nicht, Singen braucht Gegenwart. Schreiben eine gewisse zeitliche Distanz. Die verborgene Sängerin gilt hiermit offiziell als vermisst, und Abwesenheit, so viel steht fest, ist etwas grundsätzlich anderes als verborgen zu sein. Franz und ich legen eine Pause ein. Mit dem Spazierengehen allein ist es nicht getan. Nennen wir es eine Pause. Irgendwann flacht jede Welle ab, irgendwann legt sich jeder Sturm, irgendwann zeigt sich, was sich zeigen will.

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Fotos: Franz Kimmel