Franz und ich stehen am Steg zum Deutschen Museum. Das Licht zur Mittagszeit, sagt der Fotograf, ist knallhart wie ein Scheinwerfer, der alles erleuchtet. Unsere Schatten reichen nur knapp über unsere Nasenspitzen hinaus. Wir schauen flussaufwärts und flussabwärts, die Sonne brennt, ein Lüftchen weht. Wenn wir in den Fluss spucken, hätte unsere Spucke gute Chancen…
Read MoreDie verborgene Sängerin (15.1)
Frühmorgens, wenn der Wind ungünstig stand, schlug einem beim Verlassen des Wohnhauses übler Geruch entgegen. Der Geruch von Schlachthof, von Fleischverarbeitung und totem Vieh. Im Erdgeschoss wurden Schlachtermesser und silberne Kettenhemden für Metzger verkauft. An manchen Tagen stand ein weißer Plastikbottich in der Größe eines Ölfasses vor der Ladentür, der Ladenbesitzer, ein stämmiger Mann in…
Read MoreDie verborgene Sängerin (15.2)
Der Münchner Schlachthof verdankt seine Existenz einer Pandemie. Im Jahr 1866 grassierte die Cholera in der Stadt und forderte viele Todesopfer, der Hygieniker Max von Pettenkofer forderte bessere Hygienestandards. Beides führte zur Einrichtung zentraler kommunaler Schlachthöfe. Zuvor war von den Metzgern und Gastwirten noch im eigenen Haus geschlachtet worden. Obwohl im Zweiten Weltkrieg dann große…
Read MoreDie verborgene Sängerin (14.1)
Wo ist das Oben und wo das Unten einer Straße, wo ihr Anfang und wo ihr Ende? Wir beginnen bei den hohen Zahlen und schreiten voran zu den niedrigen, und dann wieder zurück. Oben Baustelle, unten Kirche. Oder umgekehrt, oben Glockengeläut und bei den Hausnummern über Hundert aufgerissener Asphalt. Wie oft bin ich diese Straße…
Read MoreDie verborgene Sängerin (14.2)
“Beginning again and again is a natural thing even when there is a series. (…) Continuous present is one thing and beginning again and again is another thing. These are both things. And then there is using everything.” (Gertrude Stein: Composition as Explanation) Im Hinterhaus der Schellingstraße 50 befand sich seit dem Jahr 1925 das…
Read MoreDie verborgene Sängerin (13)
Wo in anderen Jahren um diese Zeit das Tollwood Festival stattfindet, wächst in diesem Jahr Gras drüber. Auf dem leeren Festplatz sprießt ein zarter grüner Flaum wie Haare auf einem Glatzköpfigen, dessen Hormonhaushalt von einer frischen Liebe verjüngt und gedüngt wurde. Der Festivalbetrieb macht Pause. Keine Theater- und Musikzelte, keine fliegenden Bauten, keine Food-Buden und…
Read MoreDie verborgene Sängerin (12.1)
Wann haben wir den Olympiapark je in so einem unschuldigen, regensatten, unzertrampelten Frühsommergrün gesehen? Ich möchte HALT rufen! Schaut doch, seht doch nur. Ein Wunder, ein Mysterium! Wenn es etwas festzuhalten gälte als Fazit der vergangenen Wochen und Monate, dann dies. Dieses Grün, dieses hemmungslose Gedeihen und Blühen. Diese ans Gemüt gehende, zarte, zu sich…
Read MoreDie verborgene Sängerin (12.2)
Utopien und Verfehlungen. Es sollten heitere Spiele werden im Sommer 1972, ein Gegenentwurf zur Olympiade 1936 in Berlin, wo die Nationalsozialisten den olympischen Gedanken mit Heldenpathos überzuckert hatten. In München plante man Spiele im Grünen, bunte Spiele, man wollte Völkerverständigung und Weltoffenheit demonstrieren, ein anderes Deutschlandbild zeigen, ein Land zeigen, das aus seiner Vergangenheit gelernt…
Read MoreDie verborgene Sängerin (11.1)
Oben im vierten Stock, links neben der Straßenlampe, da habe ich einmal gewohnt. Achtzehn Jahre lang war das Zwei-Zimmer-Nest zwischen den zwei Dachgauben dort oben mein Zuhause. Durch das eine Fenster, das zum Hof, blickte ich vom Schlafzimmer aus in die Krone einer großen Kastanie, die gepflanzt wurde, als das Haus kurz nach dem Krieg…
Read MoreDie verborgene Sängerin (11.2)
Ferdinand-Miller-Platz, Maxvorstadt. Eine Ecke weiter liegt die Erzgießereistraße. In diesem Viertel wurde die Eintausendfünfhundertsechzig Zentner schwere Bavaria gegossen, in vier Teilen. Der Entwurf für die Statue stammte von Leo v. Klenze und dem Bildhauer Ludwig Schwanthaler. Die Erzgießer Johann Baptist Stiglmaier und dessen Neffe Ferdinand Miller erhielten 1837 den Auftrag zur Produktion in der von…
Read MoreDie verborgene Sängerin (10)
Mancherorts haben Sicherheitskräfte die Kinderspielplätze mit rot-weißem Plastikabsperrband umwickelt und abgesperrt, als handele es sich um Tatorte von Verbrechen. So auch im Münchner Arnulfpark, wo Franz und ich uns zum Spaziergang treffen. Park meint hier den städtebaulichen Euphemismus zwischen Hackerbrücke und Donnersbergerbrücke, für Nicht-Münchner: ein weitläufiges Neubaugebiet entlang der Schienenhauptachse zum Münchner Hauptbahnhof. Direkt entlang…
Read MoreDie verborgene Sängerin (9.1)
„Mit dem Herumlaufen allein ist es nicht getan. Ich muß eine Art Heimatkunde treiben, mich um die Vergangenheit und Zukunft dieser Stadt kümmern, dieser Stadt, die immer unterwegs, immer im Begriff, anders zu werden, ist.“ (Franz Hessel) Auch wenn die einsamen Flaneure des 20. Jahrhunderts, Walter Benjamin, Robert Walser oder der oben aus seinem „Lehrbuch…
Read MoreIm Verborgenen Singen (8)
Nun ward der Frühling unserer Distanz. Die Lindenbäume in ihren entzückend knappen zarten Blätterkleidchen säumen wie Fronleichnamsmädchen die Straßen, Gehsteige und Fahrradwege. An den Litfaßsäulen werben immer noch Plakate für Phantomveranstaltungen im März und April. Vor dem Schaufenster eines Modegeschäfts steht eine Frau in die Betrachtung einer frisch eingekleideten Schaufensterpuppe vertieft, als seien wir an…
Read MoreIm Verborgenen Singen (6)
Doch, wir machen weiter. Auf getrennten Wegen zwar, aber wir machen weiter. Franz durchstreift seinen lokalen Nahbereich und ich den meinen. Die verborgene Sängerin erwarten wir momentan nicht zu finden. Es geht mehr darum, den aufgenommenen Faden zwischen den Fingern zu halten, weitermachen als energetisches Prinzip, im Feld bleiben, nicht die Spannung verlieren. Gerade in…
Read MoreIm Verborgenen Singen (4)
„Die kalte, harte Präzision der Zahlen hält uns oft rücksichtslos gefangen, aber wir müssen vergeben, bis wir nicht mehr zählen können.“ (Matteo Cella, Priester in Nembro, Lombardei) Singen im Freien ist gefährlich geworden, es sei denn der Gesang tönt von Balkonen herüber und herab, wie im tapferen traurigen Italien. München kokettierte in den Zeiten, die…
Read MoreIm Verborgenen Singen (3)
„Die Stadt war schön und leer.“ (Robert Walser) Man darf mit einem Hund spazieren gehen, aber nicht mit einem Freund. Man darf wohl auch mit zwei oder drei Hunden spazieren gehen und trotzdem nicht mit einem Freund. Das macht die Suche nach der verborgenen Sängerin für Franz und mich schwierig. Franz pirscht nun nachts mit…
Read MoreDie verborgene Sängerin (2)
Nichts ist von Dauer, nichts ist vollendet und nichts ist perfekt. (Prinzipien des Wabi-Sabi) Die Suche nach der „verborgenen Sängerin“ wird unbeabsichtigt zu einer Chronik des Verschwindens von Öffentlichkeit aus dem öffentlichen Raum. Noch tanzen die Surfbretter auf der Eisbachwelle. Noch gehen die Menschen im Englischen Garten spazieren, noch joggen sie, fahren Rad, flanieren, führen…
Read MoreDie verborgene Sängerin (1)
Es heißt, sie tauche unangekündigt irgendwo auf, inmitten einer Wiese, an touristisch frequentierten Stellen, an einsamen Plätzen, an Kreuzungen von Spazier- und Wanderwegen. Und dann singe sie, und das sei unglaublich! Wir beginnen unsere Suche nach der „verborgenen Sängerin“ auf der größten Münchner Wiese, der Theresienwiese. Blumen wachsen auf dieser Wiese zwar keine mehr, und…
Read MoreDie verborgene Sängerin. Eine Recherche in München.
>> zu den Texten des Projekts im Blog Oder erst Infos zum Projekt lesen: Vor einigen Jahren hörte ich zum ersten Mal von der „Verborgenen Sängerin“, einer geheimnisvollen Sängerin und Performerin, die ausschließlich unter freiem Himmel singt. Bis dahin war sie vor allem in ländlichen Gegenden in Erscheinung getreten. Es hieß, sie tauche unangekündigt irgendwo auf, am Ackerrand, inmitten…
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