Franz und ich stehen am Steg zum Deutschen Museum. Das Licht zur Mittagszeit, sagt der Fotograf, ist knallhart wie ein Scheinwerfer, der alles erleuchtet. Unsere Schatten reichen nur knapp über unsere Nasenspitzen hinaus. Wir schauen flussaufwärts und flussabwärts, die Sonne brennt, ein Lüftchen weht. Wenn wir in den Fluss spucken, hätte unsere Spucke gute Chancen in homöopathischer Auflösung nach Deggendorf und dort in die Donau zu gelangen, an Wien, Budapest und Belgrad vorbei, einmal durch den Balkan bis ins Schwarze Meer. Der Steg, auf dem wir stehen, heißt Boschsteg, zur Stadtseite hin wird er von einer übergroßen Nussknackerfigur aus rotem Sandstein bewacht. „Dass der hier so ungestürzt steht“, bemerkt Franz.
In anderen, cooleren Städten wurden in den letzten Wochen Denkmäler und Statuen von ihren Sockeln gestoßen. In London besprühten Aktivist*innen eine Winston Churchill Figur während einer Black Lives Matter Demo mit Farbe. Und „der hier“, der steife Nussknacker, stellt Otto von Bismarck dar, das Standbild hat eine ziemlich unappetitliche Geschichte. Oskar von Miller, der Initiator des Deutschen Museums, wollte es schon 1931 nicht auf seiner Museumsinsel haben. Jetzt ragt es stumm und etwas dumm am Isarrand empor wie eine ungesungene Strophe der Wacht am Rhein. Der Bildhauer Fritz Behn fertigte das Standbild im Auftrag des Industriellen und Gründers der „Ruhrlade“ Paul Reusch an. Die Ruhrlade, ein Zusammenschluss gewichtiger deutscher Unternehmer, unterstützte mit hohen Beträgen Funktionäre der NSDAP und befürwortete eine, zumindest teilweise, Machtübergabe an die Nazis. Jener Fritz Behn, ein damals erfolgreicher Künstler, war bekannt vor allem für seine Tierplastiken, die er unter dem Eindruck mehrerer Reisen in die deutschen Kolonien in Ostafrika schuf. Behn vertrat öffentlich antidemokratische, rassistische und nationalistische Positionen. Er war Bewunderer und Gesprächspartner Mussolinis, tat sich mit antisemitischen Äußerungen hervor und schrieb für das Feuilleton des Völkischen Beobachters. Von Hitler erhielt er 1943 die Goethe-Medaille für Wissenschaft und Kunst. In Bremen widmete man in den 1980er Jahren ein Kolonialdenkmal von Behn in eine Antikolonialmahnmal um. Mit einem steinernen Elefanten kann man so etwas machen. Aber mit einem Bismarck?
Wir spazieren von Brücke zu Brücke, und ich jetzt beim Schreiben noch einmal zurück zu einem Gedanken von vorhin. Warum wurde nie eine Isarbrücke oder wenigstens ein Steg nach Bally Prell benannt? Sie fristet Straßennamenmäßig ein ödes Nachleben in einem Neubauviertel in Lochhausen, eine Dreiviertel Stunde Autofahrt vom Stadtzentrum entfernt, von dort, wo sie lebte und wirkte und in Wirtshäusern, Bierkellern, Theatern und der Volksbühne am Platzl gegenüber vom Münchner Hofbräuhaus über Jahrzehnte ihr Publikum begeisterte, es zum Lachen brachte und das „Isarmärchen“ sang. 1981 zum letzten Mal, sie starb mit 59 Jahren. Heute würde man Bally Prell, geborene Agnes Pauline Prell, vermutlich der LGBTQIA+ Community zuordnen (engl.: Lesbian, Gay, Bisexuel, Transsexuel, Queer, Intersexuel, Asexuel, + …). Sie selbst blieb außerhalb des Rampenlichts zurückgezogen und auf Distanz. Von einer Wegbegleiterin wird Bally Prell als seelenguter Mensch beschrieben, liebenswert, sozial veranlagt, von ihren Gagen habe sie stets etwas abgegeben an andere bedürftige Künstler*innen. Ernsthaftes Repertoire, Arien von Mozart und Schubert und selbstvertonte Eichendorff-Gedichte, sang sie nur umsonst. Ihr zahlendes Publikum wollte sie als Lachnummer. Eine verborgene Sängerin auch sie.
Petition an den Münchner Stadtrat: Den hübschen Fußgängersteg vor der Praterinsel, den Kabelsteg, in Bally-Prell-Steg umbenennen. Das wär‘ doch mal was.
Fotos: Franz Kimmel