Die Brücke. Der Fluss. Am Fluss. Auf dem Fluss. Im Fluss.

“And after that what changes what changes after that, after that what changes and what changes after that and after that and what changes and after that and what changes after that.” (Gertrude Stein: Composition as Explanation)

Sommer in der Stadt. Es ist heiß, bald 30 Grad. T-Shirt-Wetter, Barfuß-in-Sandalen-Wetter, Coronavergessenheitswetter, Badewetter. Die grüne Isar rauscht in ihrem grünen Bett. Franz und ich stehen auf der Brücke und gucken in den Fluss. Isarabwärts liegt München am Amazonas, ein Amazonien aus Weiden, Kastanien, Linden, Ahornbäumen, Holundersträuchern, Pappeln und Robinien. Über dem grünen Dschungel hält die Nike vom Maximilianeum im blauen Himmel Audienz, umgeben von ihrem Hofstaat aus Zuckerwattewölkchen. Tagaus, tagein krönt sie die verschwenderisch umwucherte Flusslandschaft unter ihren Flügeln mit dem Lorbeerheiligenschein. Eine Brückenaussicht weiter tut es ihr der güldene Friedensengel gleich und segnet unermüdlich die Stadt per friedensstiftendem Ölbaumzweig. Zwei Chef*innen, die sich ebenbürtig eine Aufgabe teilen, das Modell nennt man in der fortschrittlichen Unternehmensführung Pairing.

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Das gesegnete München. Die schöne Stadt am Gletscherfluss, mancher Isarkiesel kannte schon das Pleistozän. Die Isar entspringt dem Karwendelgebirge in den Alpen. In der Würmeiszeit, der letzten großen Kaltzeit im Alpenraum, war sie ein Schmelzwasserausfluss des Isar-Loisach-Gletschers, dessen glaziale Zungen auch die Becken des Starnberger Sees und des Ammersees schürften. Die Schmelzwasser des Gletschers brachten den steinigen Untergrund von den Bergen ins Voralpenland, München ist auf Schotter und Kies gebaut.

Auf dem Kies liegen die Nackerten und Sonnenbadenden, mitten in der Stadt, mitten unter der Woche, mitten am Tag. Auf den Königsbrücken, der Ludwigs-, der Maximilians- und der Luitpoldbrücke, lärmt in beide Richtungen der Straßenverkehr. Entlang der Isar jedoch herrscht Urlaubsstimmung. Auf den Bänken vis-à-vis der Praterinsel sitzen Mädchen und essen Salate aus Takeaway-Bechern. Es sitzen Mütter mit Kindern und Menschen, die in Smartphones starren. Die von den Isarinseln in zwei Flussarme geteilte Isar rauscht über die Stufen der Wehre und stürzt tosend und gischtspritzend die künstlich angelegten Kaskaden hinab. Dann wieder stille Flussabschnitte. Rechts der Isar Ruhe, Wald und Wiesen. Weiße Baumflusen gleiten durch die lichten Schattenlücken zwischen den hohen Baumstämmen. Die Weiden am Ufer hängen ihre langen schmalen Blätter ins kühle Wasser und lassen sie träge schleifen gleich Fingern junger Damen beim Kahnfahren mit dem Liebsten. „Und wenn die Sonne und der blaue Himmel lacht/ über dir und deines Landes Pracht“, sang Bally Prell, die voluminöse feinsinnige Volkssängerin in weiblichem Tenor, „rauscht die Isar ihr uraltes Liedlein dazu:/ Schön wie ein Märchen, mein München, bist du!“


Vielleicht liegt es an Sommertagen wie diesem und dem Fluss, der unter majestätischen Brücken das Liedlein einer übergewichtigen, pausbäckig lachenden, herzensguten, ländlichen Schönheitskönigin intoniert, dass es der Stadt München nie gelang, in die Liga der coolen und angesagten Metropolen aufzurücken. Flüsse sind der zentrale Nervenstrang der Städte, durch die sie fließen. Und die Isar ist ja keine breite Handelsstraße, kein mächtiger Strom, sondern eine eigenwillige Künstlerin mit pfandflaschengrünen Augen, die das Lob der Schöpfung donnert, säuselt, plaudert und tiriliert, je nachdem, wo man ihr begegnet und wieviel Wasser sie führt. Lobpreisen ist ihre wahre Ambition. Für die Binnenschifffahrt hat die Isar kaum Bedeutung, weil sie nicht durchwegs schiffbar ist. Früher wurden auf ihr Holz und andere Güter geflößt. An der Praterinsel steht noch ein verwitterter, von den Floßmeistern gestifteter steinerner Brückengeistlicher mit erhobenem Kreuz. Die Glocken der Lukaskirche läuten.

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Auf und an der Isar wurde immerhin der moderne Kanusport geboren und verbreitete sich von Bayern aus in ganz Europa. Am 30. Mai 1905 ging der Architekturstudent Alfred Heurich auf Jungfernfahrt mit seinem selbstgebauten Faltboot „Luftikus“ (Materialkosten 30 Mark). Von Bad Tölz paddelte er in fünf Stunden auf der teils reisenden Isar bis in die Landeshauptstadt, wo ein Reporter ihn schon erwartete. Die Idee für das zerlegbaren Boot hatte der junge Erfinder bei einem Besuch des Völkerkundemuseums und dem Anblick eines Grönland-Kajaks aus Holz, Knochen und Tierfellen gehabt. Heurichs Neuinterpretation des Kajaks demokratisierte das Vergnügen, Gewässer zu befahren aus reinem Freizeitspaß. Solcherart sind die Inspirationen des Münchner Flusses. Das Patent kaufte zwei Jahre später der Rosenheimer Schneidermeister und Sportartikelhändler Johann Klepper, der die Faltboote alsbald in Serie produzierte.

Fortsetzung, Folge 16.2

Fotos: Franz Kimmel