Sobald man den Fluss überquert, von dort kommend, wo Franz und ich herkommen, der Isar den Rücken kehrt und weiter nach Haidhausen, Bogenhausen oder Giesing möchte, geht es den Berg hinauf. Ein kleiner Höhenunterschied, der erst überwunden sein will, und der denen „oben“ gelegentlich etwas zu Kopf steigt, wie mir scheint, und uns, die radfahrend von „unten“ kommen, den Schweiß aus den Poren treibt. Auf dem Heimweg ist es dann anders herum. Dann strampeln die rechts der Isar Wohnenden hinauf und wir anderen sausen den Berg hinab. – Die geringfügige Steigung nach Überquerung des Flusses nötigt mich, über die ungleichen Verhältnisse in dieser Stadt nachzudenken.
Franz und ich sind am Isarhochufer in Bogenhausen verabredet. Wir ketten unsere Räder an einem Verkehrsschild an und spazieren durch die Straßen. Ruhig ist es hier, das Wort gediegen drängt sich auf. Wir beschauen die Speerspitzen der grußeisernen Gitterzäune, bestaunen die hochherrschaftlichen Villen hinter den Zäunen, fühlen uns von Überwachungskameras gemustert, sonst schaut uns niemand an, denn auf den Straßen ist kaum etwas los. In diesem Teil der Stadt vermutet man soziale Distanz als den Normalzustand und Abstand halten als Funktion gesellschaftlicher Bestandswahrung, vor mehr als Hundert Jahren architektonisch in immobilen Stein gebannt. Im letzten Weltkrieg blieb Bogenhausen von Bombardierungen weitgehend verschont, und noch heute verkünden die mondänen Jugendstilgebäude, die efeuüberwucherten Erker, geschwungenen Giebel, Türmchen, Fassadenmosaike und großbürgerlichen Wohnhäuser das Reglement: Wer hier wohnt gehört zur „besseren“ Gesellschaft. Von Geld zu reden würde vulgär anmuten angesichts der hohen alten Bäume und Blutbuchen in den Vorgärten, angesichts der über jeden neidvollen Zweifel und jedes kapitalismuskritische Argument erhabenen Selbstverständlichkeit, mit der das Viertel darauf aufmerksam zu machen in mehr als Hundert Jahren nicht müde wurde, dass es eben auch reiche Leute gibt und geben muss, ja unbedingt „bessere“ reiche Leute, solche mit Stil, Kunstsinn und Geschmack.
Ein Junge mit ernstem Gesicht kommt uns joggend entgegen, kurze Sportshorts, helles T-Shirt, weiße Apple-Horcherl im Ohr, er sieht fast wie ein Kind noch aus und wirkt so erwachsen, vorwärts gerichtet, entschlossen, diszipliniert, als befände er sich bereits auf der Zielgeraden des Lebens. Für einen Augenblick steht dem ernsten Kind seine ganze, alternativlos erfolgreiche Zukunft als großes DU MUSST auf die Stirn geschrieben. Schon ist er vorbei, etwas Trauriges bleibt. Vielleicht hätte ich dem Jungen, wenn er uns an anderem Ort begegnet wäre, ein anderes Schicksal zugedacht.
Was ist es nur, dass Franz und mich in solcher Umgebung beklommen macht? Die Häuser sind, bis auf wenige Ausnahmen, schön, die Gärten gepflegt, die Bäume prächtig, die vielen parkenden Autos geputzt, die wenigen Menschen, die man sieht, sind ebenfalls gepflegt und schön. Ein Kind, das auf dem Kinderrad dem Papa hinterherfährt, spricht französisch. Im weitläufigen Garten des italienischen Generalkonsulats könnte man „Vom Winde verweht“ nachdrehen. Südstaatenflair, Veranda und Säulen. Das britische Generalkonsulat, ein Grundstück weiter, gibt sich dagegen hochgeschlossen und spröde.
Ein viergeschossiges Wohngebäude, das aussehen will wie die Villen aus dem vergangenen Jahrhundert, es aber nicht tut, grenzt sich zur Straße ab mit Zaun und perfekt getrimmten Rasen, der wie Kunstrasen aussieht, tatsächlich aber echt ist.
Wo Themen des Zuviels und des Zuwenigs vorherrschen, verliert, was lebendig ist, seine Kraft und beginnt zu sterben. „Es ist tot hier“, sagt Franz. Zu viel Vergangenheit, zu wenig Gegenwart. Zu viel Reichtum, zu wenig Dreck. Zu viel Sicherheit, zu wenig Nähe. Zu viel ängstliches Geflüster, zu wenig offenherziges Gelächter.
Wir flüchten am Hygienewachmann vorbei in den Garten der Monacensia, was wie ein seltener Frauenname klingt, jedoch Lateinisch ist und einfach nur Münchnerisches heißt. Die Monacensia, ein Ableger der Stadtbibliothek und laut Eigenbeschreibung „das literarische Gedächtnis der Stadt München“, befindet sich seit 1977 in der ehemaligen Villa des Bildhauers Adolf von Hildebrand, dem Hildebrandhaus in der Maria-Theresia-Straße 23. Im „Lesegarten“ warten Liegestühle und die bunten Wimpel quergespannter Stoffgirlanden. Die Gartenbar wurde aus gestapelten Holzkisten gebaut, das macht den Ort sofort erholsam und sympathisch. An lauen Sommerabenden finden Lesungen statt. Drinnen im Haus eine Ausstellung zum Leben und Werk der Erika Mann, Kabarettistin, Kriegsreporterin, politische Rednerin; älteste Tochter von Katia und Thomas Mann. Die Familie Mann wohnte bis zum Exil gleich in der Nachbarschaft, in der Poschingerstraße am Herzogpark. Ihre 1913 erbaute und in den 1950er Jahren abgerissene, von einem Immobilieninvestor in unserem Jahrhundert wieder rekonstruierte Villa wurde vor einigen Jahren für sagenhafte 30 Millionen – ich möchte Dollar! schreiben, doch es waren Euro – von einem angeblich brandenburgischen Finanzspekulanten namens Thomas Manns (mit s am Schluss) gekauft. Wo einst der Zauberberg vom „raunenden Erzähler des Imperfekts“ ersonnen wurde, befinden sich nun ein Außen- und Innenpool. Doch genug der Geschichten vom ungesunden Zuviel und Zuwenig. Zu viel Simulacrum. Zu wenig verborgen singende Substanz.
Im Garten der Monacensia trinken wir Cappuccino, freuen uns am lauen Sommernachmittag, binden später unsere Räder los und radeln am Isarhochufer entlang und mit fliegenden Haaren, der schräg stehenden Sonne entgegen, den Berg wieder hinunter.
Hinterher, beim Betrachten der Fotos von Franz, frage ich mich, ob nicht Bogenhausen das heimliche Vorbild des Zauberberg-Romans war. Das „oben“ gelegene entrückte Quartier, die lethargische Atmosphäre, die Gediegenheit, die Dekadenz, die leise Hintergrundmusik des schwächelnden Europas, die großen Balkone, auf denen Sanatoriums-Bewohner*innen auf Liegestühlen in Decken gehüllt ruhen …
Fotos: Franz Kimmel