Frühmorgens, wenn der Wind ungünstig stand, schlug einem beim Verlassen des Wohnhauses übler Geruch entgegen. Der Geruch von Schlachthof, von Fleischverarbeitung und totem Vieh. Im Erdgeschoss wurden Schlachtermesser und silberne Kettenhemden für Metzger verkauft. An manchen Tagen stand ein weißer Plastikbottich in der Größe eines Ölfasses vor der Ladentür, der Ladenbesitzer, ein stämmiger Mann in weißer Schürze, zog lange, weißliche, glitschnasse Tierdärme daraus hervor. Unter solchen Umständen galt es, die ersten fünfzig Meter von der Haustür bis zum Ende der Straße flach atmend zu überwinden, oder besser noch: Luft anhalten und durchtauchen. Der Gestank des Schlachthofs gehörte zu der Kategorie von Gerüchen, an die man sich nie wirklich gewöhnen kann. Auch Jahrzehnte später noch nimmt die Erinnerung daran Gestalt an wie sonst nur Erinnerungen an starke emotionale Erlebnisse, gerade so als erinnere man sich an eine Begegnung mit etwas körperlich Greifbaren und materiell Realen. Das Bild des Geruchs gleicht dem Schlag einer Faust in den Magen. Es gleicht einem aufs Gesicht geklatschten Schmutzlappen. Es nimmt den Atem. Ganz unmittelbar, und ganz ohne metaphorische Umwege.

Ich war 1990 zum Studium nach München gekommen und wohnte die ersten Wochen bei meiner älteren Schwester in der Tumblingerstraße. Stand der Wind günstig, blieb der Schlachthof hinter der Ziegelmauer auf der gegenüberliegenden Straßenseite für die Anwohnerinnen und Anwohner unbemerkt. Meine Schwester hatte mit ihrem Lebensgefährten eine schöne große Altbauwohnung in einem der stattlichen Gründerzeithäuser des Schlachthofviertels gemietet. Hohe weiße Zimmerdecken, Stuck in den Ecken, knarzende Treppenhausdielen. Zwei Häuser weiter der „Metzgerwirt“. Vorne an der Kapuzinerstraße in einem klobigen 80er Jahre Gebäudekomplex das Münchner Arbeitsamt, heute Jobcenter genannt, seine Klinkeroptik den alten Schlachthofgebäuden nachempfunden.

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Das Viertel schlummert noch immer einigermaßen ungentrifiziert unter der schützenden Haube des Gestanks sterbender Rindviecher. 70 Tiere pro Stunden können in den flachen Hallen hinter den roten Backsteinmauern geschlachtet werden. 200 Tonnen Tagesschlachtkapazität, 600 Schlachttiere Kühlkapazität. Unser tägliches Fleisch gebt uns heute. Im Zenetti Pils Stüberl sitzen Männer. Auch am Feiertag, auch am Fronleichnamstag. Ewiger Vatertag. Unter den Linden rechts und links der Zenettistraße parken von süßer Lindenklebrigkeit überzuckerte Autos. Unter einem älteren VW-Modell liegt auf dem Kopfsteinpflaster rücklings ein Autoschraubender und versucht zu reparieren, was noch zu reparieren ist. Es herrscht Feiertagsstille im Viertel. Das Wirtshaus im Schlachthof, bekannt aus Funk und Fernsehen, ist geschlossen. Der Schlachtbetrieb ruht. Die Geschäfte von Münchner Naturdarm und der Südfleisch Holding ruhen. Ausgabe und Verkauf bei Georgios Papazof, griechische Spezialitäten, ruhen. Die Waschanlage für Viehtransporter und Kühlfahrzeuge ruht. Der gelbe Schaufelbagger, der bei laufendem Schlachtbetrieb Stroh und Exkremente schaufelt, ruht. Nur der Misthaufen stinkt. In einem Verschlag hinter Gittern vergammelt ein gestrandeter, einstmals blau gewesener Dekofisch und liebäugelt uns leicht verzweifelt an.

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Das mit den Därmen hat mich dann doch interessiert, zugegeben nur rein theoretisch. Wiener Würste, Cocktail-Würstchen, Debrecziner und Schweinsbratwürste werden in die Därme von Schafen gefüllt, da diese zart und leicht zu beißen sind. Schon geht es wieder um die Wurst. Die Münchner Weißwurst trägt einen reißfesten Heißwasserschwimmanzug aus Schweinedarm, aus dem wird sie zum Verzehr gezuzelt und gepellt. Die im Metzgerjargon Saitlinge genannten Schafsdärme kommen sehr häufig, wie exotisch, aus dem Orient; aus China, der Türkei und anderen arabischen und asiatischen Ländern. Fremd bin ich eingezogen…, Knackwürstchen, auch du!

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Wir überqueren das ruhende Schlachtfeld. An dessen entlegenen Rand schmiegt sich an die Mauer, die das Gelände von den dahinterliegenden Bahngleisen trennt, ein winziger geheimer Paradiesgarten. Geheim natürlich nur, wenn man ihn noch nicht kennt. Welche Entzückung an diesem unseligen Ort! Die wahren Geheimnisse, selbst nachdem sie gelüftet, erklärt, analysiert und fotografiert sind, bleiben rätselhaft. Die heilige Johanna der Schlachthöfe ist zu den Pflanzen zurückgekehrt. Sie kämpft nicht für billiges Fleisch, sie pflanzt Salat, Zucchini, Kohlrabi und Karotten. Sie bewässert das dem Schlachthofbeton abgerungene Stück Erde. Drei Jahre lang musste sie warten, bis ein Beet im Garten frei wurde. Ein Kollektiv engagierter Nachbar*innen hat den Platz geschaffen. In den Hochbeeten aus Transportpaletten wächst, rankt und blüht es in schöner wildorgansierter Vielfalt und Einzigartigkeit. Bienen summen um einen Bienenstock herum, gelbe Ringelblumen strahlen der Sonne entgegen, dann und wann rattert hinter der Mauer ein Zug vorbei.

Der Platz rührt mich. Ich denke an die verborgene Sängerin. Dass ja die ganze Stadt, wie jede Stadt und wie jede Landschaft und jeder Ort, wenn man sich nur genügend Zeit nimmt und langsam geht, langsam schaut und sorgfältig zuhört, sich zu verwandeln und auf eigene Weise zu singen beginnt. Man braucht kein Zauberwort, um das in sich Ruhende und bei sich Seiende zum Leben zu erwecken. Die Dinge sangen längst bevor wir kamen. Wunderliche Lieder von Liebe, Dissonanz und Anarchie. Die verborgene Sängerin hat Franz und mich mit ihrem Bild zum Schlendern gebracht. Das war der ganze Zaubertrick: Einen Menschen finden, der dich langsam macht.

Fortsetzung, Folge 15.2

Fotos: Franz Kimmel