Der Münchner Schlachthof verdankt seine Existenz einer Pandemie. Im Jahr 1866 grassierte die Cholera in der Stadt und forderte viele Todesopfer, der Hygieniker Max von Pettenkofer forderte bessere Hygienestandards. Beides führte zur Einrichtung zentraler kommunaler Schlachthöfe. Zuvor war von den Metzgern und Gastwirten noch im eigenen Haus geschlachtet worden. Obwohl im Zweiten Weltkrieg dann große Teile der Schlachthoffläche zerstört wurden, entschied man sich für einen Wiederaufbau an gleicher Stelle und gegen eine Auslagerung an den Rand der Stadt. Am 1. April 2000 wurde die Rinderschlachtung privatisiert, am 1. April 2004 die Schweineschlachtung und im Jahr darauf das Flächen- und Objektmanagement. 2006 fand der letzte Münchner Pferdemarkt statt.

Ein riesiger Kubus ragt auf dem Gelände des ehemaligen Pferdemarkts in den Himmel. Es ist das Bühnenhaus des neuen Volkstheaters, das hier entsteht und aussieht wie ein neues prächtiges Opernhaus im roten Unterkleid der Schlachthofklinker. Das schicke Theater wird das Viertel verändern.
Wird bis zu seiner Fertigstellung die aktuelle Pandemie auch das Theater verändert haben?
Das vermag zum jetzigen Zeitpunkt niemand zu sagen. Noch herrscht Baustellenatmosphäre.

Gleich nebenan türmen sich, bei weitem nicht so hoch wie die Gebäude der Hochkultur, die Überseecontainer der Subkultur. „Bahnwärter Thiel“ nennen die Betreiber ihr Projekt. Was für einen seltsamen Schirmherrn sie ausgesucht haben. Als ob das stets drohende Aus des Projekts durch die Wahl des literarischen Vorbilds beschworen und schon vorweggenommen werden sollte. Denn mit dem Bahnwärter Thiel aus der gleichnamigen Erzählung von Gerhart Hauptmann nahm es kein gutes Ende. So wie es nie ein gutes Ende nehmen kann, wenn die begleitenden Frauenfiguren nur als stereotype Verkörperungen verklärter Reinheit einerseits (Minna, die verstorbene Frau des Bahnwärters) und sexualisierter Verderbtheit andererseits (Lene, die zweite Frau des Bahnwärters) auftauchen dürfen. Liebe Jungs, wählt bessere Vorbilder. Zitiert frauenfreundliche = menschenfreundliche Geschichten.

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Franz und ich erkunden zaghaft das Gelände. Wir wollen nur schauen und niemanden stören. Der kleine Garten nebenan wirkte einladender und zugänglicher als die Containerkolonie aus Stahl mit ihren eckigen Kanten und schroffen Formen, auch wenn deren Sichtbarkeit unter dem vitalen Chaos raumgreifender, überbordender, rastloser Graffitischichten fast verschwindet. Wo sind wir, was ist das hier? Da steht ein aufgebockter ausrangierter U-Bahnwagon, da steht an der Mauer zum Schlachthof ein alter Baukran, da sind Wohnwägen mit Bier- und Bionadekästen vor der Tür, Kuppelaufbauten aus alten Speichenrädern, eine glitzernde Discokugel auf einer hohen Stange, Müllskulpturen, Holzpaletten…

Man weiß nicht, wo man zuerst hinsehen soll. Kein Gegenstand, keine Fläche ohne Sprayer*innensignaturen und Farbe aus Aerosoldosen. Sogar auf den Blättern der hier und dort hervorsprießenden Brennnesseln leuchten Farbkleckse. Ziemlich bunt ist es hier. Ein retro-futuristischer Märchenpark des alternativen Lebens, eine Feier des Nomadentums in der Stadt des 21. Jahrhunderts, ein Garten aus Stahl und Lack und Zeichen und derzeit eine Partymeile im hygieneauflagenbedingten Dämmerschlaf. Aus einem der Container hört man leise Musik, weiter hinten wird eine Spraydose geschüttelt, klacker, klacker, klacker. Ansonsten ist nicht viel los. Keine Konzerte, Clubnächte, Flohmärkte, Kinoabende, Lesungen, Workshops. Nur zögerlich läuft der Gastronomiebetrieb wieder an. Betreten nicht ohne Mund- und Nasenmaske.

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Der benachbarte teure Neubau des Volkstheaters wirft seinen Schatten auf die von Freiheit und friedlicher Weltökonomie träumenden weitgereisten Container und sucht doch zugleich deren behagliche Nähe.

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Fotos: Franz Kimmel

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