Wo ist das Oben und wo das Unten einer Straße, wo ihr Anfang und wo ihr Ende? Wir beginnen bei den hohen Zahlen und schreiten voran zu den niedrigen, und dann wieder zurück. Oben Baustelle, unten Kirche. Oder umgekehrt, oben Glockengeläut und bei den Hausnummern über Hundert aufgerissener Asphalt. Wie oft bin ich diese Straße entlang gegangen, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an die Straße selbst zu verschenken und an diejenigen, die vor uns da waren, dort wohnten, hier verkehrten, aus- und eingingen in den Cafés und Restaurants. Oder an denjenigen, dessen Namen die Straße trägt.
Zuallererst hieß sie Löwenstraße, dann Schelling. Fraglos ohne Vornamen, dabei wäre nicht nur der Herr, sondern auch die Frau Schelling, geborene Caroline Michaelis, verwitwete Böhmer, geschiedene Schlegel, Schriftstellerin und Shakespearübersetzerin, Mutter von vier Kindern, eines davon in unehelichem Verhältnis gezeugt mit einem elf Jahre jüngeren französischen Leutnant, „dem sie sich in einer Ballnacht im Februar hingegeben hatte“, so altertümlich formuliert es Wikipedia heute noch, statt zu sagen, sie hatten Lust aufeinander, und vielleicht hatte Caroline auch Lust auf den klugen, 12 Jahre jüngeren, für seine Naturphilosophie bekannten Schelling, dem sie an Lebenserfahrung sicher einiges voraus hatte, unter anderem eine Gefängnisstrafe aufgrund demokratischer Gesinnung und Sympathie mit der französischen Aufklärung und Revolution, und um meinen angefangenen Satz zu beenden, wäre Caroline Schelling doch ebenso eine würdige Straßennamensgeberin wie ihr Gatte.
Bis heute durchzieht unsere Städte ein Namensreferenznetz vornehmlich berühmter Männer. Ansammlungen von Namen fortschrittlicher Frauen dagegen finden sich erst in den seriellen Neubaugebieten des beginnenden 21. Jahrhunderts, wie zuletzt beobachtet im Münchner Arnulfpark.
Wo fängt man an, die Schellingstraße zu erzählen, bei ihrer Vergangenheit, und bei welcher Vergangenheit? Bei ihrer Gegenwart? In der Hausnummer 23 eröffnete der Dichter Joachim Ringelnatz im Jahr 1909 einen Tabakladen, im Schaufenster ein menschliches Skelett. Als er nach wenigen Monaten genug davon hatte, Geschäftsmann zu sein, verschenkte er das Inventar an verblüffte Passanten. Auch verfasste er ein Gedicht mit dem Titel „Das Geschwätz in der Bedürfnisanstalt in der Schellingstraße“. Dachte er dabei an den sagenumwobenen Schellingsalon? Dort sollen Hitler und Lenin in jungen Jahren im Keller nebeneinander am Pissoir gestanden haben. Auch Franz Marc, Kandinsky, Ibsen, Rilke, Brecht, Ringelnatz selbst und Oskar Maria Graf erleichterten sich dort. Ein Haus weiter, im Café Altschwabing, verkehrten Thomas Mann, Frank Wedekind, Stefan George und Paul Klee.
In Ödon von Horvaths erstem Roman „Der ewige Spießer“ spielt die Münchner Schellingstraße eine Hauptrolle. Horvath studierte in der Schellingstraße Theaterwissenschaft. Ich auch. In einer Schellingstraße bin ich sogar aufgewachsen, aber nicht in dieser Schellingstraße und nicht in dieser Stadt. Der Name jedenfalls ist mir lange vertraut. Anna Pollinger wiederum, eine Figur aus Horvaths Roman, wohnte bei ihrer Tante in der Schellingstraße, „nicht dort, wo sie bei der Ludwigskirche so vornehm beginnt, sondern dort, wo sie aufhört. Dort vermietete die Tante im vierten Stock zwei Zimmer und führte parterre das Geschäft ihres seligen Mannes weiter, und das war kaum größer als eine Kammer. Darüber stand »Antiquariat«, und in der Auslage gab es zerrissene Zeitschriften und verstaubte Aktpostkarten.
Verstaubte Antiquariate gibt es auch heute noch in der Schellingstraße, ebenfalls die aus der Zeit gefallene Bären- und Puppenklinik. Im Fenster des Goldankaufladens winken asiatischen Grinsekatzen. „Eine Attraktion für Kinder,“ sagt der gleichfalls grinsende Goldankäufer, der soeben den Laden verlässt und die Tür abschließt. Vor seinem Geschäft stehen die Kund*innen oft Schlange, der Zutritt wurde schon vor Corona nur pro Person gewährt.
Was gibt es noch? Mehrere Friseurläden, mehrere Optiker, drei mal Edeka, ein Studio für Haarverlängerung, eine Schneiderei, eines der schönsten Papiergeschäfte Münchens, Carta Pura, ein Blumengeschäft, ein fantastisches Jugendstilhaus mit Mohnblütenornamenten unter dem Dach, eine schrägstehende Robinie, die neben der Bushaltestelle Ecke Türkenstraße fast auf die Straße kippt. Es gibt den Lieblingsladen von Franz Tochter, den sie mochte bis sie fand, genug Anziehsachen zu besitzen, und gegenüber den Unverpacktladen „Ohne“, den man schon von Weitem am Klappern der mitgebrachten leeren Gläser in den Stofftaschen der sich nähernden Einkaufenden erkennt.
Im schon erwähnten Schellingsalon wird hinter den bayerisch blau-weiß gerauteten Vorhängen gebackenes Fischfilet mit Kartoffelsalat für 7,50 Euro serviert. Durchgehend warme Küche. Ecke Amalien das Atzinger, wo man sonst auch nach Mitternacht noch Pommes und Currywurst bekam. Derzeit jedoch müssen Lokale um 22 Uhr schließen und die Gäste beim Betreten Mundschutz tragen, sich die Hände desinfizieren, ihre Namen und Telefonnummern in eine Liste schreiben, um den Gesundheitsbehörden zu ermöglichen, Infektionsketten nachzuvollziehen. Wir sind im vormals vornehmen, belebteren Teil der Straße angelangt. Kneipen, Cafés, Imbisse, Foodstores – sagt man noch Schnellrestaurant? Die angepriesenen Getränke und Gerichte heißen Powerfood Suppen, Superfood Salads, Juices, Smoothies und Coffee Specialities. München wäre so gerne international. Doch die Wunden der Erinnerung, insbesondere die, „Hauptstadt der Bewegung“ gewesen zu sein, holen uns auch in der Schellingstraße ein.
Fotos: Franz Kimmel