Wann haben wir den Olympiapark je in so einem unschuldigen, regensatten, unzertrampelten Frühsommergrün gesehen? Ich möchte HALT rufen! Schaut doch, seht doch nur. Ein Wunder, ein Mysterium! Wenn es etwas festzuhalten gälte als Fazit der vergangenen Wochen und Monate, dann dies. Dieses Grün, dieses hemmungslose Gedeihen und Blühen. Diese ans Gemüt gehende, zarte, zu sich selbst kommende Natur.
Franz und ich sind in Richtung Norden aufgebrochen. Ins olympische Revier. Ein anderes Gesicht der Stadt. Ich mag die Gegend sehr. Den Park mit seinen sanft geschwungenen Hügeln, den hoch aufragenden schlanken Olympiaturm, das Olympiastadion mit seiner von Pagoden und Nomadenzelten träumenden Dachkonstruktion. Darüber schrieb ich vor etlichen Jahren einmal in einem Text. „An manchen Tagen erinnert mich das Zeltdach des Olympiastadions an lustig hintereinander aufgespannte riesige Damen-BHs. An anderen Tagen hängt die Konstruktion so gelassen und zeitlos zwischen Himmel und Erde, dass ich weinen möchte.“ Ja, man möchte weinen, hier wurden Utopien entworfen und gedacht. Hier wurde eine neue Welt gemacht. Auch fünfzig Jahre später umweht das Gelände noch der Geist einer besseren Zukunft. Einer Zukunft, die niemals war, vielleicht auch niemals sein wird, doch beharrlich darauf wartet, Gegenwart und eingelöst zu werden.
„Wir werden doch nicht nur geboren, um hinzunehmen oder aufzuschreiben, was war und wie es war, als wir noch nicht waren, sondern alles wartet auf uns, die Dinge suchen ihren Dichter und wollen auf uns bezogen sein.“ (Ernst Bloch: Geist der Utopie)
Die Dinge suchen natürlich auch ihre Dichterin, Herr Bloch. Und ihren Fotografen. Wir schreiben den 14. Mai. Im katholischen Heiligenkalender das Datum des Namenstags der Heiligen Corona. Die Klettertürme der Hochschulsportanlage ragen neben den brachliegenden Aschebahnen auf wie kariöse Backenzähne. Fängt man an, das Bezogenseinwollen der Dinge ernst zu nehmen, gerät alles zum Sinnbild.
Corona starb einen Märtyrertod, berichtet die Legende, angebunden an die Äste zweier Palmen, die man heruntergebogen hatte, um die junge Frau daran festzubinden. Als die Palmwedel nach oben schnellten, riss es den Körper der Corona entzwei. Noch ein Sinnbild, eines für Entzweigeteiltheit und Zerrissenheit. Die Hl. Corona werden wir nicht bitten, für uns zu beten. Aber dann steht sie plötzlich vor uns, lächelt in Tausend und einer Sprache, trocknet Geschirr ab und erzählt ihre Geschichte. Franz und ich sind mit den Fahrrädern zum stillgelegten, unter Denkmalschutz stehenden S-Bahnhof in der Nähe der früheren Olympia-Pressestadt gefahren. Der Bahnhof wurde für die Spiele 1972 gebaut, danach nur noch bei Großveranstaltungen im Olympiastadion genutzt und nach einem verheerenden Unfall, bei dem spielende Kinder auf abgestellte Kesselwagen kletterten und mit der Hochspannung der Fahrleitung in Berührung kamen, wurde der Bahnhof 1988 geschlossen. Seitdem verfällt er. Ein vor drei Jahren vorgestelltes, von der Stadt München in Auftrag gegebenes, neues Nutzungskonzept – Denkmalschutz, Naturschutz, Jugendkultur und Erholung – wurde bis bislang nicht umgesetzt.
Das Betonskelett des Geisterbahnhofs finden wir von Absperrgittern umgeben. Wir gehen um die Gitter herum und klettern den Hang hinab durch die hohe Wiese bis zu den Gleisen. Die gesamte Anlage ist zugewachsen mit Büschen, Holunder, Haselnusssträuchern, Zwerg-Mispeln, wilden Blumen und Kräutern. Die Natur verleibt sich das ihr Entrissene wieder ein. Auf dem Bahnsteig wächst ein kleiner Birkenwald. Eine zerschlissene Plakatwand wirbt für Knorr Fertiggerichte aus der Tüte. Lasagne, Spaghetti Bolognese. „Neues Design. Unverändert lecker. Jetzt probieren.“ Die Treppen zur oberen Plattform, die Betonwände und Stützpfeiler sind über und über mit Graffiti, Sprayertags, Signaturen bedeckt. Ein gezeichneter, verzauberter Ort. Schlag auf und lies das Buch der Chiffren von Wiederholung und Differenz.
Seitlich begrenzt vom Treppenabgang tut sich auf der Ebene der Gleise ein fast sakraler, suburbaner Raum vor uns auf. Ein Saal, dessen Betonwände Höhlenmalereien des 21. Jahrhunderts zieren und dessen hohe Decke die obere Plattform bildet. Wir stehen mitten im Wohnzimmer, der Küche, dem Schlafzimmer einer Frau, die hier in der Abgeschiedenheit Wohnung bezogen hat. Sie hat ein Geschirrhandtuch in der Hand und trocknet ab. Unser Auftauchen nimmt sie gelassen hin. Franz fragt höflich, ob wir fotografieren dürfen. Sie nickt und lächelt, erleichtert vermutlich, dass wir in friedlicher Absicht gekommen sind. Ein abgewetztes Igluzelt steht am Boden, Schlafsäcke, Decken, Plastiktüten; eine Menge Zeugs liegt herum. Während Franz die Ruine fotografiert, entspinnt sich ein Gespräch mit der Frau. Sie kommt aus Rumänien, spricht einigermaßen Deutsch. Seit sechs Jahren lebt sie in Deutschland, ihre drei Kinder sind im Kinderheim untergebracht. Sie jobbt als Köchin und kann nicht arbeiten. „Corona“, sagt sie und hebt die Schultern. Sie müsse besser die Sprache lernen, fügt sie hinzu. Nicht alles, was sie sagt, ist deutlich zu verstehen. Zwei Leute wohnen noch hier unten mit ihr. Wie alt mag sie sein? Keine Vierzig. Die Haut ihres Gesichtes ist glatt, die drahtigen Haare schimmern an den Schläfen grau. Als wir uns verabschieden, lächelt sie wieder ihr verwundetes heiliges Lächeln, ein Lächeln, dem die oberen Vorderzähne fehlen.
Fotos: Franz Kimmel