Doch, wir machen weiter. Auf getrennten Wegen zwar, aber wir machen weiter. Franz durchstreift seinen lokalen Nahbereich und ich den meinen. Die verborgene Sängerin erwarten wir momentan nicht zu finden. Es geht mehr darum, den aufgenommenen Faden zwischen den Fingern zu halten, weitermachen als energetisches Prinzip, im Feld bleiben, nicht die Spannung verlieren. Gerade in Zeiten der Krise braucht man etwas, an dem man sich orientieren und entlang hangeln kann, und sei es nur ein dünnes metaphorisches Fädchen.

In diesem Sinne habe ich mein gesamtes Tageskontingent an Einkaufendürfen, Sport machen, frische Luft schnappen, mich um ältere Nachbarinnen kümmern und allen nur erdenklichen triftigen Gründen, das Haus zu verlassen, zusammengeworfen, wie ein Kind, das sein gesamtes Taschengeld zusammenkratzt, in diesem Fall, um mein legales schmales Outdoor-Kapital in eine große Fahrradrunde durch die Stadt zu investieren. Ein echtes krisenmaßstabsgerechtes Abenteuer! Entgegen der von täglichen Nachrichten genährten Befürchtung, beim Verlassen des Nahbereichs, sprich meines Viertels, auf Berlinerisch Kiez, also an jeder Kiezgrenze in eine Polizeisperre zu geraten, gelang die Durchreise von Sendling, die Isar lang, Innenstadt, Maxvorstadt bis nach Neuhausen ohne Probleme.

Isarbruecke_by_Franz-Kimmel


Heiteres Wetter, Frühlingsgefühle, neugieriges Schauen. Ach, wie sich die Welt verwandelt hat! Welcher Wochentag? Unendlicher Sonntag. Die Stadt liegt versonnen im Dornröschenschlaf. Geschlossene Geschäfte, geschlossene Cafés, halbverschlossene mundgeschützte Gesichter. Tönt das Hämmern und Bohren von den Baustellen so dröhnend, weil es ansonsten auf den Straßen so viel leiser geworden ist? Keine lauten Gespräche, kein Rufen, Hupen, Schimpfen, kein lärmendes Wort. Passantinnen und Passanten wie Rehe. Einige sprechen vor sich hin, ohne zu telefonieren. Sind es mehr, die Selbstgespräche führen, als sonst? Seltsame Wildnis; wenn wild die Ordnung des sich Verändernden und Sterblichen meint.

Auf der gesamten Stadtrundodyssee begleitet mich eine obskure Ahnung von Angst und Unsicherheit. Wessen Unsicherheit, wessen Schutz, wessen Bedrohung. Nicht fragen, nur beschreiben. Und im Herz der Stadt, am Marienplatz, da ist auch kein Sonntag. Da herrscht die Ruhe eines Totenfeiertags, den kein Kalender noch kannte, geschweige denn je benannte. – Halt, doch. Es tauchten Hinweise bei einem unzuverlässigen Charakter in der Literatur auf (siehe unten). In allen Künsten, und vielleicht nur dort, lebt ein Rest von Orakelhaftigkeit fort und fort.

Mann eine Showtreppe hinabsteigend:

“He flung up his hands and tramped down the stone stairs, singing out of tune with a Cockney accent: O, won’t we have a merry time, Drinking whisky, beer and wine! On coronation, Coronation day! O, won’t we have a merry time On coronation day!”  (James Joyce, Ulysses)

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Fotos: Franz Kimmel

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