Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.

Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit. (…)

(Friedrich Hölderlin)

Foto_by_Franz-Kimmel

Einmal am Tag rausgehen, Freund*innen, das ist das Mindeste. Einmal am Tag diese neue feinstaubreduzierte Luft atmen, die aus der Freiheit uns leicht und vielversprechend entgegenweht. Einmal am Tag den Zimmermief gründlich ausatmen, die Lungenflügel ausbreiten, das Zauberinstrument der körpereigenen Beatmung aktivieren. Ohne Atmung kein Gesang. Zu singen, egal ob auf Bühnen, Balkonen, in leeren Büros, unter Bäumen, fängt mit der Atmung an. Und Achtung vor tautologischen Gedanken, damit fängt der Lagerkoller an! Also besser raus an die Luft, ins Offene, ins Freie.

Ich glaube, die verborgene Sängerin hat sich vorübergehend zurückgezogen in die Wälder, dorthin, wo das Projekt einmal begann, ich weiß es natürlich nicht genau. Es ist nur eine Ahnung, ein Gefühl, ein Bild von Bäumen. Tief im Wald kann man ungehört singen. Waldaufenthalte stärken das Immunsystem. Shinrin-yoku auf japanisch, das sogenannte Waldbaden, wirkt sich wohltuend auf Leib und Seele aus. Flüchtige Metabolitsubstanzen, Phytonzide – die geheimnisvollen Fremdwörter wispert mir Wikipedia ins Ohr – schwirren zum Schutz der Bäume und Pflanzen umher. Atmet ein Mensch solche Phytonzide ein, löst dies unzählige heilsame Prozesse aus und ein Gefühl forestrischer Ruhe. Seufzen im Wald, verwirrtes unkontrolliertes Lachen und Ausatmen generell schließen uns großzügig in den Kreislauf der Photosynthese mit ein.

Und wenn da kein Wald ist weit und breit?

Foto_by_Franz-Kimmel

Dann duschen wir eben unter städtischen Bäumen. Sobald sie zu blühen beginnen, wie jetzt im Frühling, ist Baumduschen besonders schön. Jeder Baum hat seinen eigenen unverwechselbaren Duft und Klang. Man braucht nur eine Weile im Schatten junger Lindentriebe stehen, im feinen Nieselschnee, wenn Zierkirschblüten Haar und Wangen umwehen, den dicken Kastanienknospen die Stirn bieten, selber ein wenig Baum werden, Würzelchen schlagen, Ginko sein, Platane, Eiche, Birke, Ahorn, Magnolie.

Unter einer dicken Parkbuche sah ich beim Spazierengehen ein älteres Paar auf einer Bank sitzen. Sie schwiegen, blickten mich an, ich nickte ihnen grüßend zu. Sie schienen nicht sicher, ob Begegnungen mit Bäumen und Baumsitzduschen in die Kategorie „verbotene Treffen mit Personen, die nicht zum eigenen Hausstand gehören“ fallen. Sie schienen überhaupt nicht sicher mehr zu sein. Sie wirkten verschüchtert, fremd geworden in der Welt, dünnhäutig, verletzbar und dabei ihrer eigenen Unsicherheit schmerzlich und/oder trotzig bewusst. Adam und Eva als Senioren ins Paradies zurückgekehrt, erkennend, dass ihr alter Baum in tagesaktuellen Situationen auch nicht schlauer ist als sie und keine Aufschlüsse über Gut und Böse*, richtig und falsch zu geben vermag, darüber, was noch erlaubt ist, was zumutbar, was geboten, wenn man zu einer epidemologisch festgesetzten Risikogruppe zählt. Wie bitter eine Medizin doch schmeckt, die aufgrund eines einzigen Persönlichkeitsmerkmals verordnet wird.

Eine über 80-jährige Freundin meiner Familie, mit der ich vor ein paar Tagen telefonierte, sagte: „Den Krieg haben wir erlebt, den Mauerfall. Und jetzt das. Das hätte es nicht auch noch gebraucht.“ – Nein, das hätte es sicher für die meisten nicht gebraucht. Aber von welcher Warte aus wollen wir urteilen?

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PS: Vielleicht trotz unsicherer Rechtslage den Baum deiner Wahl nach dem Baumduschen umarmen.

Fotos: Franz Kimmel

* Der Gedanke stammt von Walter Benjamin. In: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen.“ von 1916 schreibt er: „Der Baum der Erkenntnis stand nicht wegen der Aufschlüsse über Gut und Böse, die er zu geben vermochte hätte, im Garten Gottes, sondern als Wahrzeichen des Gerichts über den Fragenden. Diese ungeheure Ironie ist das Kennzeichen des mythischen Ursprungs des Rechts.“

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