„Die kalte, harte Präzision der Zahlen hält uns oft rücksichtslos gefangen, aber wir müssen vergeben, bis wir nicht mehr zählen können.“ (Matteo Cella, Priester in Nembro, Lombardei)

Singen im Freien ist gefährlich geworden, es sei denn der Gesang tönt von Balkonen herüber und herab, wie im tapferen traurigen Italien. München kokettierte in den Zeiten, die vergangen sind, gerne mit der Behauptung, die nördlichste Stadt Italiens zu sein. Das tut es jetzt nicht mehr, mit Italien wollen wir gerade lieber nichts gemeinsam haben, schon gar nicht mit Norditalien. Das süße Leben steht still.

Dimmi quando… quando… quando…
l’anno, il giorno e l’ora in cui
forse tu mi bacerai…

Und sag mir, wann, nur wann – das Jahr, den Tag, die Stunde, in der wir uns wieder küssen werden…

Draußen auf den Straßen bestimmt neuerdings die Choreographie des Distanzhaltens die Bewegungen der Körper im Raum und ihr Verhältnis zueinander. Wir umkreisen uns mit 1,5 Meter Abstand, gehen uns mit 1,5 Meter Abstand aus dem Weg, stehen mit 1,5 Meter Abstand vor Apotheken und den wenigen Geschäften, die überhaupt noch öffnen dürfen. Aus der Anstehschlange ist ein locker diffuses Cluster geworden, eine Art systemische Aufstellung der dysfunktionalen Gesellschaft.
Innerstädtisches Singen wäre da durchaus gefährlich, denn menschlicher Gesang zieht Menschen an. Erzeugt Nähe, Tröpfchenbildung, keine Distanz.

Franz und ich sitzen notgedrungen zuhause, und die Sängerin schweigt. Wir wollen niemanden gefährden. Ab sofort konzentrieren wir uns aufs Verborgensein, eine der wenigen gemeinsamen Aktivitäten, die uns in diesen Tagen bleibt. Ich nutze die Zeit derweil zu einigen theoretischen Überlegungen, zum Beispiel darüber, warum die Sängerin sich verborgen nennt, nicht versteckt. Auch nicht geheim. Unsichtbar mag sie sein, vielleicht. Diskret. Doch was unterscheidet das Versteckte vom Verborgenen?

Foto_by_Franz-Kimmel


Sich zu verstecken kann kindliches Spiel bedeuten oder Verzweiflung, Angst, Sicherheitsbedürfnis, Flucht. Das Versteckte weiß eigentlich nie genau, ob es überhaupt gefunden werden möchte. In jedem Fall will es, dass sein Versteck nur von den Guten entdeckt wird, von solchen, die lustig und wohlgesonnen sind. Eine befreundete Künstlerin sagte einmal von ihren mehrdimensionalen bunten Papierobjekten, es seien Verstecke für Malerei. Gibt es Verstecke für Gesang? Ich denke an leerstehende Konzertsäle, verwaiste Opernbühnen, brachliegende Kehlkopfgewölbe, abgelegene Bushaltestellenhäuschen, in denen niemand wartet, weil der Bus nicht kommt.

Foto_by_Franz-Kimmel


Ganz kleine Kinder beherrschen noch den magischen Trick, sich hinter den eigenen Händen zu verstecken, auf diese Weise können sie vollkommen verschwinden. Als Erwachsene haben wir das leider verlernt. Zum Verstecken in seiner klassischen Form gehören das Augenverschließen und Nichtgesehenwerdenwollen entscheidend dazu.

Meine Mutter versteckte früher, als meine Geschwister und ich noch jung und unersättlich waren, jedes Jahr in der Adventszeit verschiedene Behältnisse mit Weihnachtsplätzchen im Haus. Sie war eine begnadete Plätzchenbäckerin, keine andere Mutter buk gefühlt so viele verschiedene Sorten, bei keiner anderen Mutter gerieten die Plätzchen derartig hübsch, mundgerecht und fein. Die Keksdosen wurden an geheimen Orten aufbewahrt, damit die begehrten Süßigkeiten vor uns Kindern und auch vor unserem Vater sicher wären. Unsere Mutter wusste natürlich, dass kein Versteck je sicher genug sein würde, spätestens nach zwei Tagen hatte es einer von uns entdeckt. Es handelte sich wohl eher um eine psychologische Barriere, die durch das Verstecken errichtet wurde. Wir durften stibitzen, aber nicht zugreifen. Wir durften naschen, aber offiziell musste die vorweihnachtliche Lust verboten sein. Erst am Weihnachtsabend ging unsere Mutter in den Keller oder ins Elternschlafzimmer, wo immer die Dosen und Kisten in diesem Jahr lagerten, und legte Stück für Stück des exquisiten Gebäcks auf einen großen Teller, um ihn anschließend in seiner ganzen Verführungspracht zu präsentieren. In den Augen unseres Vaters spiegelten sich die leuchtenden Christbaumkugeln und die Kerzen, in unseren Kinderaugen blitze die Gier, und wenn ich es recht überlege, versteckte unsere Mutter die Plätzchen zwar für uns Kinder, doch für unseren Vater sollten sie bis zum Weihnachtsabend verborgen sein. Und darin liegt ein Unterschied.

Falsche Jahreszeit für Weihnachtsgeschichten? An der Bäckertheke im Supermarkt wünschte mir heute die hinter einer Plexiglasscheibe verborgene Verkäuferin „Liebe und Gesundheit“. Im Verborgenen steckt auch das Geborgensein.

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Fotos: Franz Kimmel

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