„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (Ludwig Wittgenstein) – Im Rahmen des diesjährigen Literaturfestes in München fand ein Symposium mit dem Titel „Lasst uns über Sprache reden…“ statt. Ich konnte leider nicht teilnehmen, las aber später in der Zeitung den Nachbericht, der gut zu meinem Thema – Gewalt und Sprache – passt. 
Mandana Seyfeddinipur, eine Referentin des Symposiums, leitet in London das SOAS World Languages Institute, das es sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Sprachen der Welt in einem Archiv zusammenzutragen sowie bedrohte Sprachen zu sammeln und zu konservieren. Zitat Süddeutsche Zeitung vom 15.11.2016: „Seyfeddinipur zeigt, dass Sprache nicht nur als Kommunikationsmedium funktioniert, sondern auch das Denken und somit die gesamte Identität und das kulturelle Selbstverständnis prägt. Weltbezug, Erleben und Erkenntnis hängen mitunter direkt davon ab, wie man einzelne Phänomene in der jeweiligen Sprache ausdrücken kann. Sprache formt also im Wittgensteinschen Sinne das Denken.“

Die Schriftstellerin Ulrike Draesner führte in ihrem Symposiumsbeitrag ein Gedankenspiel an: Statt den Begriffen „Wortgefecht“ und „Schlagabtausch“ solle man zur Beschreibung einer Diskussion weniger kriegerische Begriffe wählen, zum Beispiel Bilder und Metaphern aus dem Tanz. 
Der amerikanische Linguist George Lakoff, auf den sich Draesner beruft, veröffentlichte 2007 zusammen mit Elisabeth Wehling ein Buch, das mit Blick auf die heutige USA oder die Türkei aktueller nicht sein könnte. Der deutsche Titel lautet: „Auf leisen Sohlen ins Gehirn: politische Sprache und ihre heimliche Macht.“ Lakoff weist darauf hin, mit welcher Macht Sprachbilder auf das Denken einwirken, da das menschliche Gehirn so arbeitet, dass es die Welt zu einem großen Teil über Bilder wahrnimmt und interpretiert.

Etwa 80 % unseres Denkens, so Lakoff, sei unbewusst. Zudem sei Denken überaus physisch, also an den Körper gebunden. Zitat: “Metaphern werden von den meisten Menschen als eine Angelegenheit der Worte verstanden. (…) Wir wissen heute, dass Metaphern nicht nur ein Aspekt der Sprache sind, sondern dass sie einen erheblichen Teil unserer Wahrnehmung strukturieren. Wir denken, sprechen und handeln in Metaphern.“

Ein Beispiel: Wenn etwas mehr ist, wird das fast überall auf der Welt als oben betrachtet, weniger ist unten. Preise steigen und fallen, Aktien schießen in den Himmel oder stürzen in den Keller. Das sind Bilder, die ihre Berechtigung hatten, als Geld noch in großen oder kleinen Haufen von Münzen weitergereicht wurde. Im Fall von Aktien, die keine eigene Materialität mehr besitzen, bestünde keine Notwendigkeit viel und wenig als oben und unten darzustellen. Doch in unseren Metaphern lebt immer auch Kulturgeschichte fort.

Bildersturm – Wortwechsel

Ein anderes gutes Beispiel, das die Macht der Metaphern vor Augen führt, findet sich im Reden über Gesundheit und Krankheit. So wird das menschliche Immunsystem nahezu überall, wo davon die Rede ist, als ein Abwehrsystem beschrieben, das Antikörper bildet, um Eindringlinge abzuwehren. Unser eigener Körper funktioniert nach diesem Bild wie eine mittelalterliche Trutzburg, wir müssen ständig gewahr sein, von bösen Invasoren befallen zu werden, weshalb unsere Abwehrkräfte zum Beispiel bei Erkältungswetter mobilisiert werden sollten. Und während ich hier friedlich an meinem Schreibtisch sitze und draußen das trübe Novemberwetter zur Mobilmachung gemahnt, fühlt es sich in meinem Inneren, wo das Immunsystem unermüdlich seine Arbeit tut und die besagten Abwehrkräfte bildet als würden frische Rekruten auf einem Kasernenhof an der Waffe trainiert, nein, es fühlt sich einfach gar nicht in mir an wie Soldatendrill und mittelalterliche Trutzburg. Im Gegenteil.

Abgesehen davon, dass die Pharmaindustrie sich sprachlicher Kriegsszenarien bedient, um ihre Produkte zu bewerben, wird das Immunsystem auch von Ärzten und Wissenschaftlern auf die selbe Weise beschrieben. Sogar Menschen aus Heilberufen, die sich um eine ganzheitliche Sicht des Körpers bemühen, verwenden das Trutzburg-Bild, scheinbar ohne viel darüber nachzudenken. Bei einer Recherche im Internet stellte ich fest, dass einzig in der östlichen Medizin, soweit deren Vertreter sich nicht dem westlichen Sprachduktus angeschlossen haben, anders über Leibesangelegenheiten gesprochen wird. Mehr in Bildern der Balance, des Ausgleichs, des zeitweilig unterbrochenen Flusses und des Blockadelösens.

Weiterdenken: Wie würde sich ein Bilderwechsel auf die gesamte Medizin und das Gesundheitswesen auswirken, wenn das Immunsystem und die Funktionsweisen des Organismus nicht länger in Bildern des Krieges, in Metaphern von Angriff und Abwehr beschrieben würden, sondern in den Vokabeln einer lebendigen Zivilgesellschaft? Statt als Brutstätte von Killerzellen und Eindringlingen würden wir unsere Körper in viel versöhnlicherer Weise betrachten. Wir könnten uns weniger bedroht von uns selbst fühlen. Wir bräuchten nicht mehr fürchten, im Krankheitsfall einen Feind im Inneren zu nähren, der damit droht, uns allmählich zu zerfressen. Wir würden statt dessen mikrobakterielle Begrüßungskomitees beherbergen, Helferkreise bilden, zelluläre Tauschaktionen und Verhandlungen durchführen, wohlwollend um Interessenausgleich bemüht. Das liefe natürlich nicht jederzeit reibungslos ab, doch die Grundintention wäre die, sich zusammen zu raufen. Bilder der Kooperation – der klügeren Form des Zusammenlebens – würden die Metaphorik der Rivalität und erbitterten Konkurrenz ablösen. An die Stelle der Aggression, der Angst und Abwehr würden die Neugierde, das Staunen und das gegenseitige Beschnuppern treten. Statt Medikamenten, die wie Kanonenbeschuss die natürlich gewachsene biologische Flora zerstören, würden Heilverfahren treten, die das Gewachsene und Gegebene als Ressource nutzen, es jedoch nicht ausmerzen und destabilisieren. Krankheit wäre nicht das böse Gegenteil von Gesundheit, sondern Bestandteil vitaler Entwicklungsprozesse, so wie der Tod nicht länger der schreckenserregender Sensenmann zu sein bräuchte, der an die Tür pocht, vor der wir panisch zurückweichen und flüchtend davon rennen wie Verfolgte in einem düsteren Horrormovie.

Es gilt die selbstverständlich gewordenen Metaphern wieder wörtlich zu nehmen, sie zu überprüfen und eventuell durch andere Bilder zu ersetzen.