Was eigentlich ist das Gegenteil von Synästhesie? Gibt es auch für das bewusst getrennte Wahrnehmen von Sinneseindrücken ein griechisches Wort? Alloästhesie? Dysästhesie?
Die Frage drängte sich mir kürzlich auf, als ich den neuen Hoffnungsträger der SPD, Martin Schulz, nach der Landtagswahl im Saarland sein Statement abgeben hörte. Ich kann mich nicht erinnern, WAS er sagte, nur WIE er es sagte hinterließ einen Eindruck. Es redete wie ein Fußballer nach einem verlorenen Fußballspiel. „Wir haben unser Bestes gegeben, die anderen waren gut aufgestellt, wir müssen jetzt noch mal ran an die Kernthemen“ usw. Schulz gab eine Reihe von austauschbaren Phrasen von sich und klang dabei, als wäre er zuvor 90 Minuten lang von rechts nach links und von links nach rechts gerannt, als ginge es in der Politik wie im Fußball einzig darum, sich zuversichtlich und optimistisch zu zeigen und als sei alles nur eine Sache trainierbarer Taktik, der Gunst der Fans und des Glücks.
Im Fußball kennt man diese Szenen: Einem verschwitzen Spieler wird ein paar Minuten nach Abpfiff noch auf dem Spielfeld ein Mikrofon unter die Nase gehalten, kurze Zeit später steht der Trainer der Mannschaft vor einer Wand mit den Logos der Marketingpartner und soll ebenfalls Sätze produzieren. Die Interviewten sagen stets Ähnliches, das Szenario eines Fußballspiels ist ja auch überschaubar, zwei Mannschaften, zwei Tore, wer die meisten Tore schießt gewinnt. Man kann über gute und schlechte Form reden, über gelungene Spielzüge und über Patzer, das Vokabular der schwitzenden Sportler kennt wenige Variationen. Sie kopieren sich gegenseitig in ihren Aussagen. Und Martin Schulz kopiert nun den Tonfall der Spielmacher, ihren Stil. Er hat seine Rhetorik dem Erfolgsmodell Fußball abgelauscht.
Der Kanzlerschaftsanwärter möchte, so hört es sich an, ein Jogi Löw der Politik sein. Oder werden. Populär, beliebt, als Chef seiner SPD-Mannschaft zum Rekordmeister aufsteigen. Er will das sogenannte einfache Volk erreichen. Alle, die sich für Fußball begeistern, und das sind hierzulande eine schöne Menge. Um politische Inhalte, diese Nachricht transportiert Schulzes Tonfall ebenfalls in mein Gehirn, brauchen wir, die Wählerinnen und Wähler, uns nicht zu kümmern. Das erledigen die Profis. – Wie war das mit der Demokratie? Eine komplexe Angelegenheit? Von wegen!

Rhythm and Soul
Barack Obama wandte in seinem ersten Wahlkampf zum US-Präsidenten einen ähnlichen Stimmtrick an. Seine rhetorischen Vorbilder hatten eine schwarze Hautfarbe: Martin Luther King, Malcom X, die Prediger in den Gospelkirchen. Obama klang nicht genau wie sie, er imitierte nicht den furiosen Redestil eines Martin Luther Kings. Aber er hatte dessen Reden sicher genauestens analysiert und der Klang seiner eigenen Reden tendierte in Richtung jenes speziellen Sounds. In der Stimme des zukünftigen Präsidenten, in seinem Sprachrhythmus, Tonfall und Tempo schwang dieser afroamerikanische Singsang mit, dieses leichte Übertreiben beim Aussprechen der Vokale, ein Sprechen aus dem Körper heraus und aus der tiefen Seele/Soul. Man konnte das hören, wenn man nicht auf das achtete, WAS er sagte. Oder wenn man ihm nicht zusah beim Sprechen, wenn man eine Wahrnehmungsebene ausblendete. Barack Obama dosierte seine Aussprache so fein, dass seine weißen Zuhörerinnen und Zuhörer keine Angst vor seiner „Blackness“ zu haben brauchten, und seine schwarzen Zuhörerinnen und Zuhörer ihn als einen der ihren erkannten.

Die menschliche Stimme ein Chamäleon
Mich fasziniert die Fähigkeit der menschlichen Stimme, sich anderen Sprechenden anzuverwandeln. Dass unsere Stimme die Färbungen verschiedener Umgebungen annehmen kann. Dass wir uns stimmlich einem sozialen Hintergrund anzupassen vermögen. Oft geschieht dies ganz unbewusst. Ich kannte einen Opernregisseur, der, sobald er mit den Bühnenmitarbeitern des Theaters sprach, in bayerischen Dialekt verfiel. Während der Proben mit den Sängern sprach er Hochdeutsch.
Manchmal hört man allein an der Aussprache und der Verwendung bestimmter Wörter und Phrasierungen wer mit wem in engem Kontakt steht. Oder wer wen besonders toll findet. Über den Klang der Sprache drückt sich Zugehörigkeit genauso wie das Dazugehörenwollen aus. Eine Schulfreundin, die einen Schweizer geheiratet hatte und seit dem Studium in Bern lebte, sprach beim 10-jährigen Abiturtreffen mit eidgenössischem Zungenschlag, es klang fast ein wenig übertrieben. Möglicherweise wollte sie uns, ihren ehemaligen Klassenkameradinnen, deutlich machen, wie weit sie sich – auch innerlich – von ihrer Herkunft und von uns entfernt und eine neue Identität angenommen hatte.

Überaus verblüfft war ich auch anlässlich meines letzten Besuchs bei meinen betagten Eltern. Während eines Gesprächs sprach mein Vater plötzlich ein Wort aus, das ich ihn nie zuvor hatte verwenden hören. Und ich kenne meinen Vater schon ziemlich lange. Aus heiterem Himmel sagte er: „Donnerwetter!“ – Ich stutzte. Denn dieser „Donnerwetter!“-Ausruf war mir bestens vertraut. Doch nicht aus dem Mund meines Vaters. Eine Münchner Freundin ruft gelegentlich als freundlich-ironischen Kommentar zu etwas vorher Gesagtem: „Donnerwetter!“. Und zwar im selben Tonfall wie nun mein Vater. Was war da los? Vater und Freundin sind sich niemals begegnet. Oder doch? Welche heimlichen Verbindungen waren hier geknüpft worden? Hinter meinem Rücken? Durch mich hindurch? Oder hatten beide ihr Donnerwetter einem Helden aus einer Fernsehserie, die ich nicht kenne, abgelauscht? Babylonische Verwirrung! Klärt mich auf! Wo zum Donnerwetter kommt dieses „Donnerwetter!“ her?