Das Wort müssen – ich muss, du musst, er/sie/es muss, wir müssen, ihr müsst, sie müssen – ist eines der meist verwendeten Worte der deutschen Sprache, insbesondere in ihrem öffentlichen Gebrauch. Der Bereich der politischen Rede kommt kaum ohne das Wort müssen aus, und auch in Ansprachen, Interviews, Statements von Leuten aus der Wirtschaft, dem Sport, des Aktivismus jeglicher Art tauchen in hoher Frequenz Sätze auf, die muss und müssen enthalten.

„Nichts muss“, heißt ein Album der Musikerin und Sängerin Barbara Morgenstern aus dem Jahr 2003. Der Song mit dem gleichen Titel handelt davon, mit sich selbst ins Reine zu kommen bzw. mit sich selbst im Reinen zu sein. „Ich bin was ich bin“, lautete eine Zeile und der Refrain: „So kam ich zu dem Schluss / Dass nichts muss.“
Im Feld der öffentlichen Rede muss dagegen viel. Es ist ziemlich aufschlussreich, verschiedene Rede- und Interviewtexte nur auf das Wort müssen hin zu untersuchen. Das Wort kommt im ersten Eindruck kraftvoll daher, es soll die Entschiedenheit und den festen Willen des oder der Sprechenden demonstrieren. Im selben Augenblick jedoch, in dem es ausgesprochen wird, verpufft die Wirkung schon und das Wort müssen entpuppt sich als eines der kraftlosesten Kraftdemonstrationswörter überhaupt. Was dem Sprecher, der Sprecherin offenbar entgeht. Mit nur einem kleinen Wort werden die größten Schwachstellen der Redenden entblößt. Wer müssen sagt legt seine Achillesferse frei. Sobald etwas muss, hat jemand ein Problem. „Ich bin, was ich bin“, wie im eingangs zitierten Song, bleibt als Aussage dabei nicht zurück. Statt dessen: Ich möchte sein, was ich nicht bin. Oder: Ich möchte werden, was ich nicht sein kann (aus welchen Gründen auch immer).
Wir müssen dies und jenes tun, es muss dies und jenes geschehen, sind Sätze, die große Ohnmacht demonstrieren. Ja, es müsste vieles anders werden auf dieser Welt, das beschwören solche Sätze, aber was da beschworen wird ist in der Regel zu groß, zu komplex, würde den Zusammenschluss zu unterschiedlicher Akteure erfordern. Der betreffende Sachverhalt ist eben nicht so einfach, als dass man mit einem Satz daran rütteln könnte. Wir müssen, es muss gleichen daher Beschwörungsformeln, Scharlatanerien, dazu angetan, Rauch und Furor zu erzeugen, wo eigentlich ohnmächtige Ahnungslosigkeit herrscht. Wir müssen die Klimaziele erreichen bedeutet im Grunde: ich habe keine Ahnung, wie es funktionieren soll, ich weiß nur, es besteht dringender Handlungsbedarf.

Kinderstube

Das Wort müssen begegnet vielen Menschen bereits im Kindesalter. „Du musst noch deine Hausaufgaben machen!“ – ein typischer Satz, den Eltern zu ihren Kindern sagen. „Du musst noch dein Zimmer aufräumen“. Oder, wenn das Kind größer ist: „Du musst um acht Uhr zuhause sein.“ Es ist klar, dass Hausaufgaben machen und Zimmer aufräumen Tätigkeiten sind, die dem Kind in dem Moment am Fernsten liegen. Es möchte viel lieber spielen, mit den Freundinnen und Freunden rumhängen, sich irgendeiner spannenden Sache im Universum widmen, gegen die Mathe und Vokabeln abgestandene Limo sind. Das Kind möchte vor allem – nichts müssen. Und mal ehrlich, unter uns Erwachsenen: Niemand will etwas müssen. Wir wollen nachhause kommen, wenn die Party gelaufen ist und erst dann, wann es uns passt. Müssen ist langweilig. Müssen lässt den Körper steif und träge werden, man schleppt sich mit größter Anstrengung zum Schreibtisch, auf dem die öden Schulhefte liegen, es fällt wirklich schwer, den Bleistift zu heben, der eigene Kopf droht vom Hals auf den Tisch zu kippen, eigentlich möchte man sofort einschlafen in der Hoffnung, wie Alice im Wunderland in einer aufregenden anderen Welt aufzuwachen, nur nicht im Kinderzimmer, das nach dem Aufräumen jede Attraktivität verloren hat.
Sobald die Mutter und der Vater „du musst“ sagen, haben sie bereits verloren. Das Kind quält sich, die Erziehenden sind genervt, überfordert, sie sehen das Kind als Gegner und den sich sträubenden Willen des Kindes als einen Widerstand, den sie zu überwinden, im ärgsten Fall zu brechen suchen.

Beim Gebrauch des Wortes müssen handelt es sich oft um ein Überbleibsel aus dem Arsenal der autoritären Erziehung. „Du musst“ drückt eine Aufforderung aus, genau genommen aber einen Befehl, dem das Kind ohne Widerspruch gehorchen soll. Die Mutter fragt nicht: Magst du deine Hausaufgaben noch machen? Wann planst du deine Matheaufgaben heute zu lösen? Sie ist nicht höflich, sie ist angespannt und gestresst. Sie möchte auch eigentlich nicht die Aufseherin ihres Kindes sein. Aber was da alles im Rücken der Mutter schwelt und über ihr als Damoklesschwert hängt! Die Lehrer, das Schulsystem, die Gnadenlosigkeit der neoliberalen Gesellschaft, in der nur Leistung zählt, gute Schulnoten, beste Schulabschlüsse. Sie sieht ihr Kind schon in der Gosse liegen, wenn es seine Hausaufgaben nicht sofort erledigt, verarmt und obdachlos, ohne Chancen auf dem Arbeitsmarkt und auf dem Heiratsmarkt sowieso. Sie sieht ihr Kind gemobbt und gedisst, verachtet, ausgemustert, unglücklich, hungrig, depressiv geworden, einsam, eben all den schrecklichen Folgen ausgeliefert, die es haben kann, wenn man seine Vokabeln nicht lernt. Da aber Kinder einen eigenen Willen haben und Mütter in der Regel keine Feldwebel sind, bleibt ihr „du musst“ eine hilflose Drohgebärde. Bei einem echten Befehl, würde der Satz mit einer Bestrafungsankündigung weitergehen: Du musst… , sonst passiert… – du musst brav sein, sonst landest du in der Hölle.

Heiße Luft

Ich habe mir einige beliebig aus dem Internet gefischte Interviews und Statements öffentlicher Personen angeschaut. Hier einige Beispiele für die Verwendung des Wortes müssen:

Christian Lindner in seiner Rede auf dem 75. Ordentlichen Bundesparteitag der Freien Demokraten, 2024: Wir haben die Köpfe. Wir haben das Know-how. Wir haben das Kapital. Aber unser Land steht sich zu oft selbst im Weg. Wir müssen uns selbst den Weg freigeben, denn wir haben keine Zeit zu verlieren. (…)

Aber wir müssen uns ja auch vergleichen, nicht nur mit uns selbst historisch, sondern wir müssen uns auch vergleichen in der Weltwirtschaft, wie sich andere entwickelt haben und wir im weltweiten Standortranking stehen. (…) Denn in den nächsten Jahren muss unser Ehrgeiz sein, von Platz 22 wieder in die Weltspitze zurückzukehren. (…) Wir werden auch unsere eigene Befähigung zur Landes- und Bündnisverteidigung verbessern müssen.“ Usw.

Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig, SPD, in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 18.8.24, kurz vor der Landtagswahl: „Sachsen braucht aber ein offenes und modernes Image. Das müssen wir leben. (…) Wir müssen das [Imageproblem] beherzt angehen, denn ehrlich gesagt haben wir das Problem zu lange geleugnet, damit ist es größer geworden. (…)
Was man rational erklären kann, muss auch emotional ankommen. (…) Aber jetzt müssen wir erst einmal für stabile Verhältnisse am 1. September sorgen.“

Friedrich Merz in der tagesschau nach der Messerattacke von Solingen, August 2024: „… das muss jetzt absolute Priorität haben (…). …wir müssen die bestehenden Regeln jetzt mal anwenden (…) … wir müssen jetzt grundsätzlich die Asyl- und Einwanderungspolitik unseres Landes ändern (…) … was muss denn noch passieren, dass jetzt endlich mal gehandelt wird, (…)… dass wir gemeinsam zu Lösungen kommen müssen. (…) Jetzt ist der Punkt, wo gehandelt werden muss und nicht weiter ritualhafte Reden gehalten werden müssen. (…) Am Ende des Tages zählen gesetzliche Änderungen, und die müssen jetzt auf den Weg gebracht werden.“ Usw.

Die Politiker, die hier zu Wort kommen, gleichen in ihren müssen-Sätzen hilflosen Erziehungsberechtigten, die ihre Kinder zur Räson zwingen wollen. Statt des elterlichen „du musst“ lautet eine der gängigsten Floskeln im Politik-Sprech „Wir müssen“ bzw. „Es muss“. Wer mit „wir“ gemeint ist, geht nie genau hervor. Wir, die Gesellschaft? Wir, meine Partei? Wir, die gesamte Menschheit?
Das Wir, das handeln soll, bleibt unspezifisch wie das, was sofort getan werden soll. Also genau genommen: Bla bla. Der Sprecher möchte entschieden wirken. Er haut verbal mit der Faust auf den Tisch: Es muss! Wir müssen! Sofort!
Erfahrene Politiker:innen sollten allerdings wissen, dass politische und gesellschaftliche Prozesse in einer Demokratie nicht auf Befehl eines Einzelnen sich im Nu vollenden, meist noch nicht einmal auf Anregung Einzelner in Gang kommen, sondern oft langwierige und stete Aushandlungsprozesse sind. Wer besonders viel muss und müssen in seine Rede packt, outet sich unterschwellig und zeigt, dass er oder sie von demokratischen Verfahren entweder wenig hält, ihnen nicht vertraut, gerne wieder in einer Monarchie leben würde (als König), lieber Soldaten als Menschen befehligen möchte, keine Ahnung hat, wie man politisch von A nach B kommt, selbstherrlich ist, ein großes Ego besitzt, was in der Regel Unsicherheit und mangelndes Selbstwertgefühl kaschiert, gerne mächtiger wäre oder schlicht überfordert ist in seiner Rolle.
Er oder sie outet sich auch als jemand, der möglicherweise selbst als Kind Opfer autoritärer Erziehungsmethoden war. Hat Herr Merz in jungen Jahren seine Hausaufgaben nicht ordentlich gemacht?

In einigen Fällen haben muss und müssen allerdings durchaus ihre Berechtigung. Auch hierfür zwei Beispiele:

Niclas Broer, Blasenspezialist, Chefarzt Klinikum Bogenhausen, SZ 15.8.24: „Grundsätzlich gilt natürlich: Die Blase muss auf jeden Fall regelmäßig entleert werden. Denn wenn sich Urin zurückstaut, kann er ernsthaft die Nieren schädigen.“

Leonie Beck, Freiwasserschwimmerin nach ihrem Olympia-Wettkampf in der Pariser Seine, SZ vom 11.8.24: „Ich musste mich in der Hotellobby übergeben.“

Aufklärung

In seiner Dankesrede zur Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung anlässlich der diesjährigen Leipziger Buchmesse zitierte der Philosoph Omri Boehm aus G. E. Lessings Drama „Nathan der Weise“. Das Stück ist Lessings letztes Werk, es thematisiert den Toleranz- und Verständigungsgedanken der Aufklärung und fragt, wie christlich-jüdisch-muslimisches Zusammenleben friedlich gelingen kann. Boehm nennt den Text die wohl „kühnste Antwort, die wir auf die Frage kennen: Was ist Aufklärung?“ Die Figur des Nathan hatte Lessing seinem Freund Moses Mendelsohn nachempfunden, dem Begründer der jüdischen Aufklärung. „Nathan der Weise“ war zu meiner Schulzeit Pflichtlektüre. Der Stücktext verwendet das Wort müssen an zentralen Stellen. Allerdings in völlig anderer Weise als die heutige Politik das Wort gebraucht. Oben habe ich auf den autoritären Gestus hingewiesen, der oft mitschwingt, wenn von müssen die Rede ist. Im „Nathan“ dagegen drückt das müssen genau das Gegenteil aus, nämlich den Akt der Freiheit, der im kantschen Kategorischen Imperativ liegt. Müssen hat hier weder die Unabdingbarkeit einer drückenden Blase oder eines Brechreizes, noch die Not soldatischer Befehlsgewalt über ein anonymes Heer von Unmündigen, noch die Ausstrahlung ohnmächtiger Ungeduld.

Zitat Omri Boehm: „Für Kant ist Aufklärung Menschlichkeit, die sich in der Freiheit, selbst zu denken, ausdrückt. Für Lessing ist sie Menschlichkeit, die sich in der Freiheit zur Freundschaft ausdrückt. An einigen entscheidenden Stellen des Stücks verkündet Nathan: ‚Kein Mensch muss müssen.‘ Erst im Lichte dieser Behauptung der Freiheit kommt das bekannte Motto des Stücks zum Leuchten, als Nathan in alle Richtungen ausruft: ‚Wir müssen, müssen Freunde sein!‘“

Wer so „ich muss“, „wir müssen“ sagt hat eine Entscheidung getroffen. Die Entscheidung zum Frieden. „Ich muss“ ist dann mehr als „ich will“, mehr als eine bloße Absichtserklärung. „Wir müssen, müssen Freunde sein!“ ist ein tatsächlich starkes Bekenntnis, weil es von der Bereitschaft spricht, alles dafür zu tun, was nötig ist, um Freundschaft und Frieden aufrecht zu erhalten. Eine kleine Nuance nur, die Verbindung des Wortes müssen mit dem Begriff Freunde sein, öffnet einen Kosmos an Möglichkeiten, an Schönheit, menschlicher Würde und – etwas altmodisch – Edelmut. Freundschaft ist reziprok, auf Gegenseitigkeit angelegt, eine Art von Zuneigung, eine Art von Liebe. Wenn ich mit jemandem befreundet sein möchte, bin ich gefordert, meine Freundschaft auch zu zeigen und nicht nur die Freundschaft einer Freundin, eines Freundes abzurufen, zu empfangen. Das Wir in diesem Fall ist ganz konkret: du und ich, ich und du.

Ob das aufgeklärte müssen auch auf die Weltpolitik anwendbar ist? Das käme auf diejenigen an, die bereit sind, sich an Verhandlungstische zu setzen. Aus freien Stücken und weil sie das Menschenrecht auf Unversehrtheit über die eigenen Machtinteressen stellen. – Ich muss es mir wieder erlauben, an unwahrscheinliche Lösungen zu glauben.