[English version below.]
Die Bahn, die zum Friedhof fährt, fährt weiter nach Stammheim. Das Wort klingelt im Ohr; lange nicht gehört. Es blättert ein ganzes Album verblasster 1970er Jahre Kindheitserinnerungen auf. Braune Cordhosen, beige-grüne Häkelweste, jungenhafte Kurzhaarfrisur; weißer Ford mit silberner Stoßstange, rote Kunstledersitze, ich mit meinen drei älteren Geschwistern hinten. Schwarz-weiße Fernsehbilder, RAF, Schleyer-Entführung, Fahndungsplakate im Fenster der Sparkasse mit mehreren Reihen schwarz-weißer Passfotos langhaariger Frauen und Männer. Das Reden der Erwachsenen darüber hat etwas Verdruckstes, Empörung schwingt mit und Abscheu und Befremden. Stammheim ist weit weg und gleichzeitig Synonym für eine Bedrohung. „Wenn du nicht spurst, kommst du nach Stammheim.“ Wer hat das gesagt? Wurde das in der Schule gesagt? Hat es ein Kind aus der Klasse geplappert? Weiß ich nicht mehr, zu lange her. Ich war noch klein, noch in der Grundschule, Goetheschule hieß die, und Stammheim hinterließ eine Spur. Das stand nicht für einen Stuttgarter Stadtbezirk, das stand für wegsperren, Hochsicherheitstrakt, Morde „in Gestalt eines Mädchens“, wie es eine Boulevard-Zeitung damals titelte; gefährliche Anti-Welt des bürgerlichen Umfelds, in dem ich aufgewachsen bin. Das Wort Stammheim begleitete uns beim Großwerden. Ich schaue der Bahn nach Stammheim hinterher und überquere die Straße zum Eingang des Stuttgarter Pragfriedhofs. Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Jan-Carl Raspe, alle vier in Stammheim gestorben, letzterer wurde noch schwer verletzt in ein Krankenhaus gebracht, liegen nicht hier, sondern weiter weg vom Stadtzentrum auf einem Friedhof im Stuttgarter Süden, Meinhof in Berlin.
Ich habe den Pragfriedhof noch nicht betreten und schweife schon ab.
Meine Gedanken gehen zu dem Blumenladen links vom Eingang. Zur Frage, ob Friedhofsgärtnereien am Blumengroßmarkt die letzte Ware abnehmen. Die schönsten Blumen auf dem ganzen Markt, voll aufgeblüht, prächtig und kraftstrotzend, dennoch will sie niemand haben, sie halten nur noch einen Tag. Gerade schön genug für den Wurf in ein Grab.
Bei der Auswahl der Friedhöfe, die ich besuche, bin ich bisher nicht wählerisch. Ich war wegen einer Veranstaltung in Stuttgart, hatte noch Zeit vor der Rückfahrt des Zuges. Der Pragfriedhof ist nicht weit entfernt vom Hauptbahnhof und wurde sogar bei der Planung von „Stuttgart 21“, dem gigantischen Umbau des Bahnhofs, im Zusammenhang mit dem Frischluftkonzept erwähnt. Zwischen der Bahnhofsbaustelle und dem Friedhof liegt das Europaviertel, ein komplett neu hochgezogenes Viertel, das seit den 1990er Jahren auf dem Gelände des ehemaligen Güter- und Rangierbahnhofs entstand. Viel Glas, Stahl, Gestaltungswillen und Beton. Bürogebäude von Banken und Versicherungen, sechs große Hotels, ein Einkaufszentrum, Geschäfte und Gastronomie. Im Zentrum, am Mailänder Platz, steht das Zentralgebäude der Stuttgarter Stadtbibliothek, entworfen vom südkoreanischen Architekten Eun Young Yi. Nachts wird es blau illuminiert. Man wollte das Areal offenbar nicht ganz dem Kommerz überlassen.
Bibliotheken und Friedhöfe. Beide halten der totalen Verwertbarkeit, der gnadenlosen Umwandlung in bloßen Profit, noch stand. Bücher und Tote sind augenscheinlich die Letzten, an die man sich heran traut. Obwohl an sich die Wehrlosesten. …darüber denke ich beim Gang über den Friedhof nach. Unter den alten Bäumen befinden sich zahlreiche freie Wiesenstücke, auf denen keine Grabsteine mehr stehen. Der Friedhof ist weit davon entfernt, ausgebucht zu sein. An manchen Stellen sind die Umrisse eines gewesenen Grabs zu erkennen, schon mit Gras überwachsen. Auf einem frisch aufgeworfenen Erdhaufen, entweder wird ein Grab aufgelassen oder neu angelegt, hockt ein kleiner weißer Vogel aus Porzellan. Rührend. Aus der Ferne hört man Arbeiter sprechen und lachen. Sie sitzen in der Runde unter einem Baum, machen Frühstücks- oder bereits Mittagspause, unterhalten sich, reden, scherzen. Es ist kaum etwas los auf dem Friedhof an diesem Mittwochvormittag, der Tag verspricht schwül und heiß zu werden, bis zu 30 Grad. Ich gehe die breiten Wege entlang unter Birken, Linden, Kastanien, Ahornbäumen, Fichten, Kiefern, Ginkos, Eschen, Blutbuchen. Zwei Eichhörnchen sprinten senkrecht den Stamm einer Tanne hinauf und hinunter, eines jagt dem anderen hinterher, in eleganten Sprüngen hüpfen sie durchs Gras.
Trennung unser Los, Wiedersehen unsere Hoffnung, lese ich auf einem Grabstein. Nur wenige Steine sind mit Inschriften verziert. In seiner Gesamtheit wirkt der Friedhofspark, mit seinen 21 Hektar Fläche der drittgrößte Stuttgarts, übersichtlich, aufgeräumt, gepflegt, wohlsituiert. Ob man am Friedhof die Stadtgesellschaft ablesen kann? Eröffnet wurde der Pragfriedhof 1873, damals lag er noch außerhalb der Stadt. Abgesperrt durch einen Zaun und ein versperrtes Gittertor entdeckte ich jüdische Gräber, Davidsterne auf den Steinen und hebräische Schrift. Die Grabsteine hinter dem Zaun sind teils stark verwittert, mit grünen Fellen aus Moos überzogen. Ich gehe den Zaun entlang, stoße auf zwei weitere Gartentore, beide ebenfalls versperrt. Immer noch diese Ghettoisierung. Vermutlich auch zum Schutz der Gräber. Dass es solcher Vorsichtmaßnahmen bedarf macht traurig.
In unmittelbarer Nähe zu den jüdischen Gräbern fallen
zahlreiche Grabstellen älteren Datums auf, 18./19. Jahrhundert. Da liegen
Staatsminister und ihre Gattinnen, Ministerialdirektoren, der kaiserliche
Staatsanwalt in Ostrolenka, ein Professor D. Dr. Konrad Miller, nicht verwandt
mit mir, und der Direktor der königlichen Heilanstalt Winnental. Die
Heilanstalt für psychisch Kranke wurde später von den Nazis zur Landeszentrale
für „erbbiologische Bestandsaufnahme“ ernannt. Zwangssterilisationen,
Deportationen und Ermordung der Deportierten folgten ab 1940. Ernst Albert
Zeller, der Direktor der Heilanstalt, als sie noch königlich war, schrieb über
seine Kranken: „Der Wahn der meisten Verrückten ist ein glücklicher und nur der
Widerspruch mit der Wirklichkeit erzeugt zuweilen Unmuth und Traurigkeit; viel
seltener ist er an und für sich peinlicher Art für den Kranken, in der Regel
ist er sein höchstes Kleinod und seine Glückseligkeit.“
Ein kleines Hinweisschild führt zur Grabstelle der Gräfin Isabella und ihres Gatten, des Luftfahrtpioniers Graf Ferdinand von Zeppelin.
Auf ihrem Grabstein: 1846 – 1922. Die Liebe höret nimmer auf
Auf seinem: 1838 –1917. Dein Glaube hat dir geholfen
Im Leben wohl eher sein technischer Sachverstand. Während ich die beiden schlichten, grauen, von einem grauen Steinkreuz getrennten Grabsteine betrachte, fällt mir ein, dass in einem Stammbaum meiner Familie mütterlicherseits, den der Bruder meine Mutter versucht hatte zu rekonstruieren, unter einem weiblichen Namen gestanden hatte: Köchin auf Schloss Zeppelin. Eine überraschende Verbindung tut sich auf. Hatte eine meiner Vorfahrinnen den Grafen Zeppelin gekannt? Für ihn gekocht, mit der Gräfin Isabella Menüfolgen besprochen, Einkaufslisten, Diäten, Desserts? Wäre es möglich, dass in der Erde vor mir DNA-Spuren meiner Ahnin gefunden werden könnten, weil sie mit bloßen Händen den Teig für die Weihnachtsplätzchen geknetet hatte, von denen die Zeppelins so gerne naschten? Hinterlässt DNA überhaupt, einverleibt und verdaut, noch Spuren? – Es läutete zwölf Uhr Mittag. Drei Jungs mit Lunchpaketen in der Hand gehen die Friedhofswege entlang, eine Krähe krächzt.
Nach der Rückkehr aus Stuttgart suche ich sofort nach dem Stammbaum, finde ihn nicht, verzweifle kurz und heftig, wühle alles noch einmal durch, schaue in jede Schublade, in jeden Schrank, durchforste jeden Winkel, weiß genau, irgendwo muss das spiralgebundene Heft meines Onkels liegen, sowas wirft man doch nicht weg! Endlich finde ich das Heft in der einzigen, nach dem letzten Umzug noch nicht ausgepackten Umzugskiste. Große Erleichterung. Im Heft ist kein Stammbaum, dafür ein Hochzeitsfoto, daneben die Beschriftung: Maria Werner, geb. Schiemer (Marlach Jagst), 1. Köchin auf Schloss Zeppelin bei Fam. Shaw. Nicht irgendeine entfernte Verwandte, meine Urgroßmutter! Ich google das Schloss, heute heißt es Burg Aschhausen. Der Erfinder des Luftschiffs hat dort nie gewohnt, es gehörte einem anderen von Zeppelin.
Nach ihrer Heirat im Jahr 1896 – das Datum ist im Heft mit einem Fragezeichen versehen – hörte meine Urgroßmutter vermutlich zu arbeiten auf wie es üblich war. Sie brachte drei Kinder zur Welt, zwei Mädchen, einen Jungen. Die ältere Tochter Theresia starb 1926 – an Grippe ist mit kleiner Schrift im Heft vermerkt. Vom jüngeren Bruder meiner Großmutter meine ich mich zu erinnern, dass er als Erwachsener in einer psychiatrische Einrichtung war, möglicherweise erst nach dem Krieg. Oder aufgrund des Kriegs. Meine Mutter hatte das einmal erwähnt. Das Heft meines Onkels ist alles, was von den früheren Generationen blieb. Ein paar Fotos, ein paar Daten, ein paar Vermutungen, zu viele Fragezeichen und die schnell welkenden Blüten meiner Phantasie. Was gäbe ich dafür, wenn mir meine Urgroßmutter ihre Lebensgeschichte erzählen könnte. Die Gräber schweigen.
English version as translated by deepl.com (free version)
– no guarantee for the accuracy and stile of language
The train that goes to the cemetery continues on to Stammheim. The word rings in my ear; long time no hear. It opens up a whole album of faded 1970s childhood memories. Brown corduroy pants, beige-green crocheted vest, boyish short hairstyle; white Ford with silver bumper, red leatherette seats, me with my three older siblings in the back. Black and white TV pictures, RAF, Schleyer kidnapping, wanted posters in the window of the Sparkasse bankhouse with several rows of black and white passport photos of long-haired women and men. The adults‘ talk about it has an air of pressure, indignation, disgust and bewilderment. Stammheim is far away and at the same time synonymous with a threat. “If you don’t behave, you’ll go to Stammheim.” Who said that? Was it said at school? Did a child in the class blurt it out? I don’t remember, too long ago. I was still a kid, still at elementary school, called Goethe School, and Stammheim left a mark. It didn’t stand for a district of Stuttgart, it stood for lock-up, high-security wing, murderer “in the shape of a girl”, as one tabloid newspaper headlined at the time; a dangerous anti-world of the middle-class environment in which I grew up. The word Stammheim accompanied us as we grew up.
I watch the train to Stammheim passing by and cross the road to the entrance of Stuttgart’s Prague Cemetery. Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Jan-Carl Raspe, all four of whom died in Stammheim, the latter was taken to a hospital seriously injured, they do not lie here, but further away from the city center in a cemetery in the south of Stuttgart, Meinhof in Berlin.
I haven’t entered the Prague cemetery yet and I’m already wandering off.
My thoughts turn to the flowershop on the left of the entrance. To the question of whether cemetery nurseries take the last of the goods at the wholesale flower market. The most beautiful flowers on the whole market, fully bloomed, magnificent and full of vigor, yet nobody wants them, they only last one more day. Just beautiful enough to be thrown into a grave.
So far, I have not been picky about the cemeteries I visit. I was in Stuttgart for an event and still had time before taking the train back. The Prague Cemetery is not far from the main station. It was even mentioned in the planning of “Stuttgart 21”, the gigantic reconstruction of the station, in connection with the fresh air concept. Between the station construction site and the cemetery the Europaviertel is located, a completely new district that has been built since the 1990s on the area of the former freight station. Lots of glass, steel, creative will and concrete. Office buildings for banks and insurance companies, six large hotels, a shopping center, stores and restaurants. In the center, on Mailänder Platz, stands the central building of the Stuttgart City Library, designed by South Korean architect Eun Young Yi. It is illuminated in blue at night. The intention was obviously not to leave the area entirely to commerce.
Libraries and cemeteries. Both still stand up to total exploitation, to merciless transformation into mere profit. Books and the dead are apparently the last one dares to touch. Although the most defenceless. …I think about this as I walk through the cemetery. Under the old trees, there are numerous open meadows where there are no longer any gravestones. The cemetery is far from being fully booked. In some places the outlines of a former grave are seen, already overgrown with grass. A small white bird made of porcelain perches on a fresh pile of earth, either an abandoned grave or a new one. Sweet. From a distance, you can hear workers talking and laughing. They are sitting under a tree, having breakfast or lunch, chatting, talking, joking. There is hardly anything going on at the cemetery on this Wednesday morning, the day promises to be hot and humid, up to 30 degrees. I walk along the wide paths under birch, lime, chestnut, maple, spruce, pine, ginkgo, ash and copper beech trees. Two squirrels sprint vertically up and down the trunk of a fir tree, one chasing the other, leaping elegantly through the grass.
Separation our fate, reunion our hope, I read on a gravestone. Only a few stones are decorated with inscriptions. In its entirety, the cemetery park, the third largest in Stuttgart with an area of 21 hectares, appears clear, tidy, well-kept and well-situated. Does the cemetery reflect the city’s society? The Prague Cemetery was opened in 1873, when it was still outside the city. Closed off by a fence and a barred gate, I discover Jewish graves, Stars of David on the stones and Hebrew writing. Some of the gravestones behind the fence are badly weathered and covered in green moss skins. I walk along the fence and come across two more garden gates, both also locked. Presumably to protect the graves. It is sad that such precautions are still and again necessary.
In the immediate vicinity of the Jewish graves, numerous older graves from the 18th and 19th centuries stand out. There are state ministers and their wives, ministerial directors, the imperial public prosecutor in Ostrolenka, a Professor D. Dr. Konrad Miller, not related to me, and the director of the royal sanatorium in Winnental. The sanatorium for the mentally ill was later appointed by the Nazis as the state center for “hereditary-biological inventory”. Forced sterilizations, deportations and the murder of deportees followed from 1940. Ernst Albert Zeller, the director of the sanatorium when it was still royal, wrote about his patients: “The delusion of most madmen is a happy one and only the contradiction with reality sometimes causes discomfort and sadness; much more rarely is it in and of itself embarrassing for the patient, as a rule it is his greatest treasure and his bliss.”
A small sign leads to the grave of Countess Isabella and her husband, the aviation pioneer Count Ferdinand von Zeppelin.
On her gravestone: 1846 – 1922 Love never ends
On his: 1838 – 1917. Your faith has helped you
In real life rather his technical expertise. As I look at the two plain gray gravestones separated by a stone cross, I remember that a family tree on my mother’s side, which my mother’s brother had tried to reconstruct, had included under a female name: cook at Schloss Zeppelin. A surprising connection emerges. Had one of my ancestors known Count Zeppelin? Had she cooked for him, discussed menus, shopping lists, diets and desserts with Countess Isabella? Is it possible that traces of my ancestor’s DNA could be found in the ground in front of me because she kneaded with her bare hands the dough for the Christmas cookies that the Zeppelins loved to snack on? Does DNA even leave traces once it has been absorbed and digested? – The bell rings at noon. Three boys with packed lunches in their hands walk along the cemetery paths, a crow caws.
After returning from Stuttgart, I immediately look for the family tree, can’t find it, brief despair, I rummage through everything again, look in every drawer, in every cupboard, rummage through every nook and cranny, know exactly that my uncle’s spiral-bound booklet must be lying somewhere, you don’t throw something like that away. I finally find the booklet in the only moving box that hasn’t yet been unpacked after the last move. Great relief. There’s no family tree in the booklet, but a wedding photo with the inscription next to it: Maria Werner, née Schiemer (Marlach Jagst), 1st cook at Zeppelin Castle with the Shaw family. Not just any distant relative, my great-grandmother. I google the castle, today it’s called Aschhausen Castle. The inventor of the airship never lived there, it belonged to another von Zeppelin.
After her marriage in 1896 – the date is marked with a question mark in the booklet – my great-grandmother presumably stopped working, as was customary. She gave birth to three children, two girls and a boy. The older daughter Theresia died in 1926 – it is noted in small print in the booklet that she died of influenza. I seem to remember that my grandmother’s younger brother was in a psychiatric institution as an adult, possibly after the war. Or because of the war. My mother mentioned it once. My uncle’s notebook is all that remains of the previous generations. A few photos, a few dates, a few assumptions, too many question marks and the quickly wilting flowers of my imagination. What I would give for my great-grandmother telling me her life story. The graves remain silent.