Gespräch mit der Künstlerin Kristin Brunner über das mexikanische Totenfest, Friedhofsrituale, Skelette aus Zucker und das bunte Jenseits.

Kristin Brunner beschäftigt sich in ihrer künstlerischen Arbeit mit dem mexikanischen Totenkult und dessen aztekischen Ursprungsmythen. Kristin wurde in Mexiko geboren und verbrachte Kindheit und Jugend dort und teils in den USA. Mit 16 Jahren zog sie zu ihren deutschen Großeltern nach München. Sie studierte zunächst Ethnologie und betrieb unter anderem Feldforschungen zu Allerheiligen und Allerseelen im ländlichen Mexiko. Seit dem Studium an der Münchner Kunstakademie thematisiert sie Tod und Jenseitsvorstellungen auch in ihrem skulpturalen und zeichnerisch-digitalen Werk.
Ich traf Kristin eine Woche vor Allerheiligen im Atelier im Münchner Werksviertel, wo sie gerade mit dem von ihr mitgegründeten Künstlerkollektiv democraticArts Kunst-Workshops für Kinder vorbereitete.

Frage: Bald ist Allerheiligen, der „Tag der Toten“ wird in Mexiko besonders gefeiert, die Friedhöfe werden herausgeputzt. Was und wie wird gefeiert?

Kristin: Während es in Europa gesellschaftlicher Konsens ist, dass man die Friedhöfe das ganze Jahr über pflegt, liegen in Mexiko die Friedhöfe auf dem Land komplett brach. Nur zu Allerheiligen und Allerseelen werden die Friedhöfe sauber gemacht und üppig, bunt und wild dekoriert mit Kerzen, Essen und vielen Targetes-Blumen, die zu dieser Jahreszeit blühen. In den meisten Traditionen dort glaubt man, dass die Toten zurück kommen, sie besuchen ihre Verwandten erst zuhause und man isst mit ihnen. Am nächsten Tag gehen sie wieder weg, deshalb geht man auf den Friedhof, um sie zu verabschieden und verbringt die Nacht dort. Teilweise ist es umgekehrt, je nach Region. Der Brauch ist in ganz Mexiko verbreitet und hat wohl einen aztekischen Ursprung. Von der Kirche wurde das Fest von August auf Allerheiligen und Allerseelen verschoben. Man konnte es nicht zerstören, nur integrieren.

Wird das nur auf dem Land gefeiert oder auch in den größeren Städten?

In der Stadt und bei der bürgerlichen Bevölkerung ist es mehr ein Erinnern an die Toten. Meine Oma hatte einen Altar mit Fotos aufgebaut, man aß zusammen, sprach über die Toten, erzählte Geschichten und nützte diesen einen Tag, um sich noch einmal zu erinnern.
In den Dörfern ist der Glaube sehr stark, dass die Toten zurück kommen. Die Leute bereiten Essen für die Toten zu und stellen es auf den Tisch oder auf das Grab. Sie sagen, das Essen ist danach geschmackslos, weil die Toten den Geschmack und die Energie aufgenommen haben. Sie erzählen, dass sie spüren, wenn die Toten da sind und wenn sie weg gehen. Diese Vorstellung, dass die Toten da sind, ist sehr haptisch. Ganz anders als in Europa oder USA, wo die Toten in der Regel böse Geister und eher selten nett und freundlich sind.

In Mexiko dagegen… – es sind die eigenen Verwandten! Man hat sich längst vergeben. An Allerheiligen kann man sagen, hey, es tut mir leid, ich habe Scheiße gebaut. Man spricht miteinander und dann sind auch die Sünden, die Fehler, die Schuldgefühle schnell weg. Viele Menschen denken ja, wenn jemand gestorben ist: Ich hab vergessen, dich anzurufen, ich hätte mich mehr kümmern sollen oder ähnliches. Wenn jemand endgültig geht, ist es normal, dass Schuldgefühle bleiben. Die Vorstellung, dass die Toten einmal im Jahr zurück kommen, und dass sie haptisch anwesend sind und man mit ihnen sprechen kann, relativiert das, und deshalb sind es nie böse Geister. Es sind halt die Verwandten, die zu Besuch kommen.

Und wo halten sie sich den Rest des Jahres auf?

Das ist tatsächlich ein Gemisch aus christlichem Glauben und der aztekischen Jenseitsvorstellung des Mictlan. Eine Frau am Friedhof meinte, das ist die Abschussrampe. Dort sind sie nicht.

Der Friedhof ist die Abschussrampe?

Genau (lacht), da ist nix. Von dort kommen sie und da gehen sie wieder hin.

Das Gateway.

Ja, das Gateway ins Jenseits. Die Azteken hatten mehrere Totenreiche, je nach Todesart. Wenn du als Krieger im Krieg gestorben bist oder als Frau beim Gebären – das waren die zwei ehrenhaftesten Arten zu sterben – bist du ins Reich des Sonnengottes hochgefahren, du wanderst mit der Sonne und bist bei Uitzilopochtli, Kriegsgott und Sonnengott, dem höchsten Gott. Alle, die ertrunken sind oder irgendeine Krankheit mit Wasser hatten, Gicht gehört zum Beispiel zu den Wasserkrankheiten, die kommen zu Tlaloc. Dem Gott des Wassers, des Überflusses und der Fruchtbarkeit. Alle anderen kommen nach Mictlan. Davon existieren unterschiedliche Beschreibungen. Zum Teil vermischt mit Höllen-Vorstellungen, düster, Hades-mäßig, nicht so schön.
In den Texten über die Azteken, die ich gefunden habe, steht, es sei wie hier, nur umgekehrt. Und das Umgekehrte ist nicht definiert. Umgekehrt auf dem Kopf? Oder umgekehrt männlich weiblich? Es wird nicht als böse beschrieben, nicht dunkel, es ist einfach ein anderer Ort.
Das Mictlan beherrschen Mictlantecuhtli und Mictecacihuatl, Herrscherin und Herrscher des Totenreiches. Die sind in der mexikanischen Kultur noch sehr präsent und ganz anders als die griechischen Götter, die Eifersucht kennen oder Opfer verlangen und sich einmischen. Bei Mictlantecuhtli und Mictecacihuatl ist alles unwichtig, da passt alles. Sie sind gelassen. Und was immer wieder gesagt wird: radikal gerecht. Denn es gibt niemand, der nicht stirbt.

In Mexiko entwickelt sich gerade eine neue Religion. Eine früher eher kleine Heilige wird als Santa Muerte und höchste Göttin verehrt. In Abbildungen des Malers Diego Rivera und auch auf älteren Bildern ist sie dargestellt als Dame mit einem großen Hut und einer Boa. Dieses Bild hat sich durchgesetzt, mit der früheren Heiligen vermischt, die einen anderen Namen hatte, wurde sie zur Santa Muerte. Angefangen damit haben die Drogenkartelle. Deren Leute leben in ständiger Todesgefahr. Dem Tod zu huldigen bedeutet mitunter ein Verhandeln mit ihr, ich brauch noch mehr Zeit, beschütz mich. Und gleichzeitig: Wenn du kommst, dann bin ich bereit. Das hat sich in den letzten zehn Jahren auch außerhalb der Kartelle weiterverbreitet.

In Deutschland ist die Stimmung an Allerheiligen und Allerseelen eher gedämpft und gedrückt, Novemberstimmung.

In meiner Kindheit war das Bunte und das Feiern von der Kirche zwar nicht verboten, aber es wurde als etwas Heidnisches betrachtet. In der Stadt hatte man ein bisschen Altar und Blumen, nicht ganz so weit von dem, was in Europa gemacht wird zu Allerheiligen und Allerseelen. Aber die Vorstellung, dass die Toten kommen, dass man mit ihnen isst und auf dem Friedhof die Nacht verbringt, das war Heidentum. Das hat sich stark gewandelt. Viele in Mexiko wissen nicht mehr, dass dieses Fest früher nicht Teil der gesamtmexikanischen Kultur, sondern der indigenen Kultur war, weil es jetzt zur neuen mexikanischen Identität gehört. In Mexiko ist dieses Fest immer größer geworden. Mehr Leute aus der Stadt sind aufs Land gefahren, um das Fest dort zu erleben. Es gibt richtige Tourismuswellen. Einerseits wird das Totenfest touristisch ausgebaut, andererseits finden es ganz viele junge Mexikaner wichtig für ihre Identität und tragen es in die Stadt.

Und dann kam der James Bond Film raus, der in Mexiko City spielt, „Spectre“, 2015. Der beginnt mit einer riesigen Parade durch die Straßen, mit vielen Masken und Menschen. Das gab es früher nicht. Das ist eigens für diesen Film erschaffen worden. Die Menschen in Mexiko City waren tatsächlich die Statisten, ich kenne ein paar, die mitgemacht haben. Man hat kein Geld bekommen, aber man war dabei. Es gab einige feste Kostüme, alle anderen durften machen, was sie wollten. Das ist geblieben und wird jetzt jedes Jahr veranstaltet, weil viele das so toll fanden. Eine riesige Party, und immer mehr junge Menschen wissen gar nicht, dass es nur ein James Bond Film war!

Auf YouTube kann man sich die Anfangsszene des Films anschauen, da gibt es viele Skelette, aber auch weiße oder schwarze Damen mit Hut und verschiedene Masken. YouTube-Link

Das Skelett war schon immer Teil des mexikanischen Totenkults. Man bekommt auch Zuckerschädel als Geschenk zu Allerheiligen, mit deinem Namen drauf oder den Namen der Toten. Die Schädel sind ganz aus Zucker und süß.

Die Schädel sind zum Essen?

Ja, man kann sie essen, aber man muss nicht.

Wie ein Memento Mori.

Wie ein Memento mori, genau. Aber zum Skelett kommen inzwischen Geister und Vampire, es wird zunehmend wilder und hat sich sehr stark mit Halloween vermischt.

Und vorher? War es ein fröhliches Fest?

Es war schon immer fröhlich, ein Familienfest. Erweiterte Familie.

Man freut sich, dass die Toten kommen?

In meiner Feldforschung, das war noch vor der Halloweenvermischung, war ich in zwei Indianerdörfern, um das Fest mitzuerleben. In einem habe ich die ganze Nacht am Friedhof verbracht. Dort haben auch Leute geweint. Es war nicht nur fröhlich, es war auch Trauer dabei. Im Erinnern kam Schmerz hoch, das war erlaubt. Ich sah ein Mädchen, dessen Vater in dem Jahr gestorben war. Er hatte gemocht, wie sie singt, und sie stand fast die ganze Nacht da und hat gesungen. Es kamen auch Mariachis. Wenn man wollte, haben sie für einen musiziert. Das wäre hier, glaube ich, undenkbar zu Allerheiligen und Allerseelen.

Am Friedhof sind die Familien zusammen.

Jeder sitzt bei seiner Familie, aber es ist auch wuselig. Viele sind ja in irgendeiner Form verwandt. Man hat zwei Stunden hier verbracht, dann muss man noch zum Onkel da drüben. Dann kommt die Musik, irgendwann der Priester und segnet, damit es noch katholisch bleibt.
Gegen fünf Uhr fingen die Leute an, Decken auszupacken, es war in einer Gegend, wo es sehr warm ist und noch ziemlich heiß, doch plötzlich wurde es eisig. Es ist so, dass in den Morgenstunden die Temperatur dort schnell sinkt, das ist normal. Aber ich wusste es nicht. Was ist hier los? Sie fingen an, Witze zu machen, jetzt gehen die Toten wieder fort und ziehen die ganze Energie weg (lacht). Innerhalb von einer Stunde haben dann alle ihre Sachen gepackt und sind nach Hause gefahren, und es war vorbei.

Menschliche Skelette und der mexikanische Totenkult stehen im Zentrum vieler deiner Arbeiten. Wie gehst du als Künstlerin damit um?

Ich nehme die Buntheit, das Gewusel von Allerheiligen und Allerseelen von Mexiko, viele der Erzählungen sind in meine Jenseitsvorstellung geflossen. Meine ist ein bisschen eigen und verändert. Meine Hauptfigur ist ein kleines Mädchen, das gestorben ist und neu im Jenseits. Sie kennt sich noch nicht gut aus, findet aber Freunde, andere Kinder. In Mexiko war es früher so, und in den Dörfern ist es immer noch so, dass Kinder erst ab dem circa 5. Lebensjahr als Menschen gelten. Je nachdem, wie weit sie entwickelt sind. Erst dann bekommen sie einen Namen. Davor haben sie noch keinen Namen und sind noch nicht wirklich Menschen. Sie sind Wesen, die einen Bezug zum Jenseits haben. Was sicher mit der hohen Kindersterblichkeit früher zusammenhängt. Um sich emotional zu schützen, gibt man ihnen noch nicht wirklich eine Stelle in der Gesellschaft.

Von dieser Vorstellung aus habe ich überlegt, ok, wie sind diese Noch-nicht-Menschen, wie ist so ein Wesen im Jenseits? Meine Nichten und Neffen waren zu der Zeit noch klein, ich habe sie beobachtet. Sie wollten ja nie wirklich Menschen sein, sie waren Tiere, sie waren alles andere… .
Es gibt in meinem Jenseits Knochendults, wo die kleinen Kinder ihre Knochen kriegen, sie können sich verrückte Mischungen mit verschiedensten Tierknochen zusammenbasteln. Sie ziehen sich eine Haut über, wenn sie Lust haben, um ein bisschen menschlich zu sein und spielen herum. Rein statistisch gesehen muss es im Jenseits nur so wuseln von kleinen Kindern.

Haben sie in deinem Jenseits auch Kontakt mit den anderen Toten?

Alle leben miteinander. Es ist alles vorhanden, was es an Vorstellungen vom Jenseits gibt. Man kann nach Hades fahren, man kann nach Mitclan fahren. Es gibt Transportwege von einem Ort zum anderen. Im Jenseits können sie sich auch in der Zeit zurückversetzen, im Jetzt sein oder sich zurückdenken ins Mittelalter, in die Antike. Tote können durch die Zeit reisen. Zumindest stelle ich es mir so vor.

Du hast mir vorher erzählt, dass die Beschäftigung mit der Thematik bei dir durch einen Todesfall in der Familie ausgelöst wurde.

Mein Großvater mütterlicherseits war 98 Jahre alt, als er beschlossen hat, er mag nicht mehr. Bis kurz davor ging es ihm relativ gut. Zuletzt hatte er eine Gesichtsrose und große Schmerzen. Wir haben ihn zuhause gepflegt, er wollte auch zuhause sterben. Er war bettlägerig, es hat ihm keine Freude mehr gemacht, deshalb hörte er auf zu essen. In einer Nacht bin ich neben ihm gesessen, er konnte schon länger die Nächte nicht mehr durchschlafen. Er hat da immer jemanden gesehen. Es war niemand in der Wohnung, aber er hat gefragt, wer das ist und hingezeigt. Er hat jemand gesehen, definitiv.
Am nächsten Morgen übernahm meine Mutter und überredete ihn, ein bisschen was zu essen, sie hat ihm Joghurt mit Müsli gegeben. Daran wäre er fast erstickt. Die gerufenen Sanitäter konnten ihn wiederbeleben und der Notarzt entschied, dass er in die Klinik muss. Mein Großvater ist dann während des Transports gestorben.

Der eigentliche Grund, warum ich mich mit dem fröhlichen Kult auseinandergesetzt habe, war… also, er ist im Krankenwagen gestorben und zwar nicht mehr in unserem Viertel, sondern in einem anderen Viertel in München. Die wussten nicht, was sie mit dem Leichnam machen sollen. Das Krankenhaus hat ihn nicht aufgenommen, weil er bereits tot war. Nach Hause durften wir ihn nicht zurückbringen, weil die Polizei von unserem Viertel gesagt hat, nein, das geht nicht, er ist in einem anderen Stadtviertel gestorben. Da standen dann wirklich Ärzte, die zwei Krankenwagenfahrer, sechs Polizisten aus verschiedenen Stadtteilen – wir waren noch durch einen anderen Stadtteil gekommen – und diskutierten, was passieren soll. Bis endlich ein Arzt die Idee hatte, bei der Gerichtsmedizin anzurufen. Die haben ihn genommen.
Wir sind zur Gerichtsmedizin gefahren… meine Mutter, mein Bruder, ich, die ihn gepflegt, die ihn geliebt haben, wir waren da und alle haben sich nur mit der Verwaltung dieses Körpers befasst. Unser Leben ist so extrem geregelt, dass ein unvorhergesehener Fall, nämlich im Krankenwagen sterben im falschen Viertel, nicht vorgesehen war. Und niemand wusste, wie man damit umgehen soll. An dem Punkt habe ich gedacht, irgendwas stimmt nicht. Irgendwas ist hier ungesund. Deshalb fing ich an, mich generell mit Totenkulten zu beschäftigen. Mit Sterben weniger. Aber wie gehen wir Lebenden damit um, wenn jemand stirbt, wie geht es uns.

Als Künstlerin machst du Skulpturen und Videos…

Ich mache sehr große Zuckerskulpturen. Ich fand diese Schädel aus Zucker schon immer reizvoll, die werden bunt wie Kuchen verziert. Meine Überlegung war: ich stelle Tod dar und verwende Zucker. Tod ist das nicht mehr vorhanden Sein von Energie, Zucker ist Energie pur, fest gewordene Energie. Das fand ich sehr interessant als Material. Ich habe unterschiedlich große Skulpturen aus Zucker gemacht, viel Papier, rot, orange, gelb, Chinapapier, bunte Blumen. Meistens sind die Skelette bei mir aus Zucker, aber alles, was sie umgibt oder wo sie sich befinden, das kann ganz unterschiedlich sein. Mal klettern sie auf einen Baum, mal sitzen sie auf einem Stern, werden ins Weltall geschossen – Abschussrampe! Die Umgebung ist meistens aus Papier und verziert.

Du machst auch Videos.

Kleine kurze Animationen, die das Jenseits zeigen. Aus den Zeichnungen heraus sind zudem viele Bilder entstanden. Das Triptychon von Hieronymus Bosch, „Der Garten der Lüste“, hat mich schon immer gereizt. Mein eigenes Triptychon ist mit Skeletten bevölkert.
Das Höllenbild bei Bosch besagt, wenn wir da hinkommen, passieren ganz schlimme Sachen. Das zieht sich bei ihm durch sämtliche Bilder, kleine Momente des Schlechten und des böse Seins, des Untergangs, wo man unglückliche Gesichter sieht, eine Vergewaltigung stattfindet. Selbst im Paradies, das schön ist, malt er kleine Momente, die zeigen, das Böse ist potenziell immer da.
In meinem Jenseits haben alle beschlossen, sie machen da nicht mehr mit, die Hölle ist leer, alle sind ausgestiegen, machen Party.

Meinst du, das Böse und Dunkle kommt über das Christentum?

Ich glaube, es gibt keine Kultur, die nicht irgendeine Vorstellung vom Bösen hat. Alle Menschen besitzen das Potenzial, Böses zu tun. Aber im Christentum, da sitzt man wahnsinnig darauf rum. Da wird viel zum böse Sein überlegt, viel weniger Gedanken werden auf das Gute verwendet. Ethnologisch gesehen gibt es nicht besonders viele Kulturen, die sich so etwas wie eine Hölle vorgestellt haben, nicht in der Horror-Art wie beispielsweise auf mittelalterlichen Bildern… Alpträume! Ziemlich ungesund psychologisch.

Spielt der Begriff des Paradieses bei dir eine Rolle?

Das Paradies soll ja der perfekte Ort sein. Daran glaube ich gar nicht. Für mich ist das Jenseits nicht viel anders als hier, die machen dort auch Fehler. Man versucht freundlich zu sein, aber man ist halt Mensch. Ich sehe nicht diese Perfektion, weil ich mir gar nicht vorstellen kann, was Perfektion bedeuten könnte. Jeder Mensch hat eine andere Vorstellung von Perfektion. Es gibt ein paar radikale christliche Vorstellungen, dass man überhaupt keinen Körper hat, unheimlich ätherisch, wahrscheinlich müsste man so sein, damit keine Fehler entstehen. Aber will man das? (lacht) Und dann auch noch für eine Ewigkeit! Ich glaube, wenn man sich Ewigkeit vorstellt, dann muss Action sein. Sonst langweilt man sich.

Bist du aktuell noch weiter an diesen Themen dran?

Tatsächlich schreibe ich gerade eine Geschichte. Die Figuren, die ursprünglich einfach nur Figuren waren, haben irgendwann Namen bekommen und wurden immer beständiger und realer für mich, und die Beschreibungen des Jenseits immer klarer. Es ist keine große Geschichte. Es geht um das Ankommen und Kennenlernen.

Eine letzte Frage: Verändern sich die Toten von Jahr zu Jahr?

Ich denke schon, aber ich kann mich nicht erinnern, dass bei meiner Feldforschung darüber gesprochen wurde. Abstrakt, als Ethnologin, sehe ich, dass wir nicht Hundertprozentig wissen, was im Jenseits passiert, aber durch das Erinnern… –  wenn wir uns im Laufe unseres Lebens verändern, dann ist die Erinnerung auch anders. Dann müssen sich die Toten verändern im Lauf der Zeit. Und ich glaube nicht, dass wir gleich bleiben. Ja, die Toten müssen sich verändern, weil wir sie verändern.

Wie in der Quantenphysik, dass die Teilchen getrennt sind…

Ja, genau, aber trotzdem verbunden.

Mehr über Kristin Brunner und ihre Projekte:

https://nepacodex.com
https://www.democraticarts.org/

Zuckertotenkoepfe-by-Kristin-Brunner