Die wörtlichen Zitate sind entnommen aus: Erdmut Wizisla: „Begegnungen mit Walter Benjamin“, Lehmstedt Verlag Leipzig 2015.
Walter Benjamin starb, dem Totenbuch der Gemeinde Portbou zufolge, am 26. September um 22 Uhr im Alter von 48 Jahren und wurde am 28. September 1940 begraben. Auf ihrem Fluchtweg über den Coll de Rumpissar begegnete die Gruppe von Walter Benjamin, Henny Gurland und deren Sohn einer anderen Gruppe, deren Mitglieder ihnen teils aus Paris bekannt waren. Es waren dies die Rechtsanwältin Carina Birman (zwischen 1926 und 1938 Botschafterin für Rechtsfragen in der Österreichischen Botschaft in Paris), ihre Freundin Sophie Lippmann, Birmans Schwester Dele sowie Grete Freund (Mitarbeiterin der Pariser Exilzeitschrift „Das neue Tage-Buch“). Auf dem Berggipfel trafen die beiden Gruppen zusammen.
Der „ältere Herr“ namens Walter Benjamin, so Carina Birman in ihren 1975 erstmals aufgeschriebenen Erinnerungen, „stand kurz vor einem Herzinfarkt“. Man suchte Wasser und setzte nach einer geraumen Weile, nachdem Benjamin sich etwas erholt hatte, den Weg gemeinsam fort. Bei Sonnenuntergang trafen sie auf der anderen Seite des Berges die ersten Spanier. In Banyuls hatte man der Birman-Gruppe gesagt, sie sollten nach dem ersten spanischen Zollamt nach der Grenze fragen, das eine Immigrationsstelle sei. Sie betraten ein Haus, das sie für dieses Amt hielten. Es war eine spanische Polizeistation. Der Polizeichef ließ sie verhaften und erklärte, die Flüchtlinge seien verpflichtet, zur französischen Grenze zurück zu kehren. Birman bat darum, die Nacht an einem ruhigen Ort verbringen zu dürfen. Das wurde gewährt unter der Auflage, dass die spanische Polizei die sieben Personen am nächsten Morgen um zehn Uhr abholen und zurück zur Grenze bringen würde. Sie wurden zum Hotel Francia geführt, Benjamin bekam ein Zimmer für sich, Henny Gurland und ihr Sohn ein weiteres, Sophie Lippmann und Carina Birman, Grete Freund und Dele Birman teilten sich jeweils ein kleines Zimmer. Die Flüchtenden besprachen das weitere Vorgehen. Sie wussten, dass die Grenzpolizei mit dem deutschen Geheimdienst, der Gestapo, in Verbindung stand. Die Rückkehr hätte für alle das Ende der Freiheit und die sichere Deportation bedeutet.
Birman und Lippmann, die neben Bargeld auch einige Goldmünzen bei sich trugen, versuchten, dem Hotelier einen Teil des Geldes in Aussicht zu stellen, wenn er helfe, den Polizeichef zu bestechen. Der Hotelier versprach, sich vor Sonnenaufgang mit der Polizei in Verbindung zu setzen.
Bei ihrer Suche nach dem Hotelbesitzer vernahm Lippmann im Flur „ein lautes Rasseln aus einem der angrenzenden Zimmer“. Sie bat ihre Freundin nachzusehen. Diese betrat Benjamins Zimmer und fand ihn „in desolater geistiger und körperlicher Verfassung vor.“ Er sagte, dass er auf keinen Fall bereit sei, zur Grenze zurückzukehren oder das Hotel zu verlassen.
Birman: „Als ich anmerkte, dass es keine Alternative gäbe außer zu gehen, erklärte er, dass es für ihn eine gäbe. Er deutete an, dass er ein paar sehr wirksame Giftpillen bei sich trüge. Er lag halbnackt auf dem Bett und hatte seine wunderschöne große goldene Großvateruhr aufgeklappt neben sich auf einem kleinen Brett liegen und beobachtete ständig die Zeit.“ Die Uhr wurde später in der Polizeiakte als Hinterlassenschaft des Toten erfasst.
Birman erzählte Benjamin vom Bestechungsversuch und drang in ihn, den Selbstmordplan aufzugeben oder zumindest damit noch zu warten. Sie verließ Benjamins Zimmer erst, als Henny Gurland hinzu kam.
Am nächsten Morgen unternehmen die Frauen mehrere Telefonanrufe, unter anderem ein erfolgloses Telefonat mit dem amerikanischen Konsulat in Barcelona. Spanische Polizisten kamen ins Hotel und telefonierten mit dem Polizeichef. Der bestand darauf, dass die Frauen zum Berggipfel zurück gehen sollten, denn nur dort würden sie die Einreiseerlaubnis erhalten. Flankiert von zwei Beamten machten die vier Frauen sich auf den Weg. Walter Benjamin, der zu dem Zeitpunkt bereits im Koma lag, und die Gurlands blieben im Hotel.
Die vier Frauen der Birman-Gruppe mussten erneut den steinigen Weg in Richtung Berggipfel klettern, wo sich oben allerdings kein weiteres Amt befand und auch keine Papiere warteten. Während eines aufkommenden Sturms mit starken Regengüssen nutzten sie die Aufregung, um sich förmlich ins Tal spülen zu lassen. Wieder Polizeistation. Der Polizeichef, der sich am Morgen hatte verleugnen lassen, traf ein, plötzlich bereit, die nötigen Papiere auszuhändigen. Der Bestechungsversuch vom Vorabend hatte letztlich funktioniert. Auch der Hotelchef war zur Stelle und brachte die Frauen zurück in den Gasthof, in dem sie nun geräumigere Zimmer erhielten und ein Abendessen „zur Wiedergutmachung“.
Kaum saßen sie am reich gedeckten Tisch trat ein katholischer Priester ins Speisezimmer und durchquerte dieses gefolgt von etwa zwanzig, Litaneien singender Mönche mit brennenden Kerzen in schwarzen und weißen Kutten. Die Mönche seien von einem nahen Kloster gekommen, hieß es, um am Totenbett des verstorbenen Walter Benjamin eine Totenmesse zu singen und ihn anschließend zu begraben.
Wie Hannah Arendt in einem Brief vom 17. Oktober 1941 an Gershom Scholem berichtete, besaß Benjamin neben seinem Visum für Amerika auch ein Empfehlungsschreiben „an irgendeinen spanischen Abt“. Arendt: „Das hat uns allen damals mächtig imponiert, war aber vollkommen sinnlos.“ – Möglicherweise war diesem Schreiben die Prozession der Mönche geschuldet. Obwohl Birman und ihre Begleiterinnen wussten, dass Benjamin Jude war, schwiegen sie darüber und überließen die Richtigstellung Henny Gurland. Birman: „Sie sagte jedoch nichts Derartiges und ließ sie den Leichnam des Verstorbenen mitnehmen.“ Soweit Birmans Bericht.
Henny Gurland, die Benjamin in Portbou am nächsten gestanden war, schrieb am 11. Oktober 1940 aus Lissabon in einem Brief von den Umstände seines Sterbens. Benjamin hatte Gurland in Marseille kennen gelernt und mit ihr beschlossen, die Reise über die Grenze gemeinsam zu anzutreten. Auf dem Pyrenäenweg trafen sie die Gruppe Birman-Lippmann.
Am Tag nach der Ankunft in Portbou habe Sophie Lippmann Henny Gurland morgens um sieben Uhr zu Benjamin gerufen. Dieser habe Gurland mitgeteilt, dass er am Vorabend um zehn Uhr „große Mengen an Morphium genommen hätte und ich versuchen solle, die Sache als Krankheit darzustellen.“
Er gab ihr einen Brief für sie und einen an Theodor Adorno und verlor das Bewusstsein. Gurland rief einen Arzt, der Gehirnschlag feststellte. Auf ihr Verlangen, Benjamin in ein Krankenhaus in Figueras zu transportieren, lehnte der Arzt jede Verantwortung dafür ab, da Benjamin bereits im Sterben lag.
Gurland schreibt: „Ich habe nun den Tag mit Polizei, Maire und Juge zugebracht, die sämtliche Papiere nachsahen und einen Brief an die Dominikaner in Spanien fanden. Ich musste den Curé holen und habe mit ihm eine Stunde auf den Knien gebetet. Ich habe um José [ihren Sohn] und mich entsetzliche Angst ausgestanden, bis der Totenschein ausgestellt war am nächsten Morgen.“
Henny Gurland bezahlte ein Grab für fünf Jahre und vernichtete Benjamins letzte Briefe, nachdem sie sie gelesen hatte. „Es standen fünf Zeilen darin, die besagten, dass er, Benjamin, nicht weiter könne, keinen Ausweg sähe und er [Adorno] sich von mir erzählen lassen solle, ebenso sein [Benjamins] Sohn.“
Von Grete Freund, die der Gruppe von Birman angehörte, existiert ein Brief an eine unbekannte Person, geschrieben im Lissabon am 9. Oktober 1940. Darin beschreibt sie die Ereignisse nach der Ankunft in Portbou folgendermaßen: „Herr Benjamin war völlig verzweifelt und erklärte am Abend im Hotel, dass er auf keinen Fall zurückreisen würde, was immer auch geschehen würde. Wir versuchten, ihn zu beruhigen, und versprachen ihm, in aller Frühe den amerikanischen Konsul in Barcelona anzurufen, da er eine persönliche Empfehlung hatte und dass wir ihn um Hilfe und Unterstützung für Herrn Benjamin bitten wollten. Trotz unserer Bemühungen hatte er jedoch offenbar in derselben Nacht ein Rauschmittel (eine starke Dosis Morphium) genommen, und nachdem wir den Arzt herbei gerufen haben, der auch sofort kam, war Herr Benjamin bereits nicht mehr transportfähig und fiel ins Koma. Er ist am selben Abend, ungefähr 24 Stunden nach unserer Ankunft, verstorben, und seine Beerdigung hat am darauffolgenden Tag gegen drei Uhr nachmittags in PortBou stattgefunden. Mit den 70 Dollar, die er bei sich trug, wurden das Hotel, der Arzt und die Beerdigung bezahlt. (…) Am tragischsten ist daher, dass Herr Benjamin letztlich mit uns zusammen hätte weiterreisen dürfen.“
In den American Jewish Archives in Cincinatti/USA wurde später der Brief eines unbekannten Verfassers gefunden, der ebenfalls Schilderungen der Geschehnisse vom 25. und 26. September 1940 in Portbou enthält. Erstmals veröffentlicht wurde dieser Brief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im September 2000: „Der Seelenzustand der Frauen und Männer, als sie im Hotel ankamen, ist nicht zu beschreiben. Sie waren erschöpft von dem zwölfstündigen Marsch im Regen [während der Berg- und Grenzüberquerung] und niedergeschmettert von der Aussicht, wieder nach Frankreich zurückgehen zu müssen oder in einen spanischen Kerker zu kommen. Sie hörten im Hotel zudem, dass eine Gruppe von sechs Frauen und zwei Kindern, die auch schwarz über die Grenze gekommen waren, bereits ins Gefängnis gebracht wurden.“
Nach dem anonymen Bericht wurde Henny Gurland am nächsten Morgen um sechs Uhr zu Benjamin gerufen, den sie sterbend auffand. Er soll gesagt haben: „Wieso lebe ich noch, ich müsste doch gestorben sein.“ Darauf habe er angefangen zu rechnen und sei gestorben. „Mitten im Sterben des Professors Benjamin erschien die Gendamerie und wollte alle Frauen wegführen.“ Auf Bitten des Wirtes durften Gurland und ihr Sohn bleiben.
Der Brief des anonymen Verfassers schließt mit der Beteuerung der Glaubwürdigkeit der Zeuginnen: „Wir schildern diese Angelegenheit ausführlich, weil wir diesen Vorfall von zwei Frauen getrennt in der gleichen Weise wiedererzählt bekommen haben. Beide Frauen haben im öffentlichen Leben gearbeitet und sind absolut vertrauenswürdig, akademisch gebildet. Es ist an diesem Vorfall nichts übertrieben.“