Was für ein Sommer! Es regnet und regnet und regnet. Über Wasserknappheit brauchen wir uns in Süddeutschland in diesen Monaten nicht zu beklagen. Die Regentonnen laufen über. Aus den Gullideckeln quillt das Wasser. Die Wiesen verwandeln sich in vollgesogene Schwämme, die unbefestigten Wege in Schlammpisten. Es plätschert, trommelt, pladdert und plätschert. Und wenn der Regen aufhört, haben die Nacktschnecken den Salat im Hochbeet aufgefressen. Dünne Schleimspuren kleben über Blattresten. Nichts, was zart und grün ist, bleibt vom Schneckenfraß verschont. Nach dem Regen kommen die Stechmücken. Und was die Schnecken übrig ließen, wird während eines Gewitters von daumennagelgroßen Hagelgeschossen geschreddert und perforiert. Ein Sommer wie unter dem Bann biblischer Plagen stehend.
An den verregnete Tagen denke ich hin und wieder an einem Film aus Südamerika, den ich vor vielen, vielen Jahren bei einem Filmfest gesehen hatte. Ich erinnere mich leider nicht an den Titel des Films. Ich weiß auch nicht mehr genau, worum es ging. Nur dass es den gesamten Film über regnete und die Menschen, die Bewohnerinnen und Bewohner einer südamerikanischen Stadt, die ganze Zeit rückwärts gingen, als sei es ihre normale Fortbewegungsart. Nur einige der Leute im Film gingen vorwärts. Sie betrieben einen Piratensender, eine Radiostation in revolutionärem Geist. Sie klärten auf, engagieren sich für eine andere Zukunft. Sie waren Träumende und realistisch zugleich.
Unter Hobbygärtnerinnen wird gerade oft über die verschiedenen Methoden der Schneckenbekämpfung geredet. Gestern beispielsweise erzählte mir ein Landschaftsgärtner von Schneckenfallen aus leeren Milchkartons. In die aufgeschnittenen Tetra Paks gibt man frisches Grünzeug und Haferflocken und legt die Fallen ins Beet. Sobald die Schnecken in den Karton gekrochen sind, kann man ihn an einen entfernten Ort tragen und die Schnecken translozieren, sie etwa in einer Wiese am Stadtrand aussetzen.
Nacktschnecken suchen menschliche Nähe, habe ich letztens gelesen. Also nicht die Art von Nähe, die unsereins sucht – gute Gespräche, zwischenmenschliche Wärme, Aufrichtigkeit, Verbindlichkeit u.ä. – sie wollen einfach nur in der Nähe menschlicher Behausungen sein. Möglicherweise hat es sich unter Bauchfüßern herumgesprochen, dass in den Gärten der Zweibeinigen das beste Grünzeug wächst. Noch nicht herumgesprochen haben sich offenbar die gewalttätigeren Methoden, die vielerorts das Verhältnis der Menschen zu den Kriechenden bestimmen. Einsammeln und wegtragen scheint dabei die harmloseste Maßnahme zu sein. Oder die aus dem Salat gepflückten Tiere über die Hecke ins Nachbargrundstück werfen; zugegebenermaßen etwas unsozial. Schnecken zerschneiden finde ich besonders eklig und brutal, egal ob mit Rasierklinge oder Schere. Das Ausstreuen von Schneckenkorn erinnert an chemische Kriegsführung. Kriechbarrieren aus Kaffeesatz, Mulch, Split, Eierschalen, Nadelstreu erwiesen sich im Test als nur mäßig effizient, insbesondere wenn es so viel regnet wie in diesem Jahr. Schneckenzäune aus Kupfer oder kleine Pflanzenmäntelchen aus abgeschnittenen Plastikflaschen schützen ebenfalls nur bei geringer Schneckendichte. Zu Bierfallen habe ich jemanden sagen hören, er habe schon einen ganzen Kasten an die Schnecken ausgegeben, da trinke er das Bier lieber selbst.
Einen sanften Tod sollen die gefräßigen Schnecken in Schraubgläsern, die mit Spiritus gefüllt wurden, sterben. Apropos: Auf wikipedia findet ich die Information, dass aufgrund der schweren Konservierbarkeit von Nacktschnecken, „Liebhabersammlungen von Nacktschnecken … so gut wie gar nicht“ existieren. Der Vollständigkeit halber soll auch noch die Möglichkeit des Stellvertreterkriegs erwähnt werden: Zu den natürlichen Fressfeinden der Nacktschnecken gehören Eidechsen, Salamander, Blindschleichen, Kröten, Ringelnattern, Igel und Laufenten, angeblich auch die getigerte Nacktschnecke, die sogenannte Tigerschnecke.
Zwar habe ich in diesem Sommer schon viele Pflanzen und Blumensprösslinge durch Schneckenfraß verloren, doch ich kann mich immer noch nicht zu einem Vernichtungskrieg durchringen. Obwohl es ein Rätsel ist und bleibt, woher die Unmengen an Schnecken kommen und wohin sie sich tagsüber, wenn die Sonne scheint, verkriechen, durch gezielte Tötung werden es nicht weniger. Man mag mich für naiv halten, aber ich denke, es könnte so etwas wie ein natürliches Gleichgewicht geben. Ein Stück vom Kuchen, in dem Fall vom Salat für mich, und dafür irgendein anderes leckeres Grünes, auf das ich nicht so scharf bin, für die Schnecken. Meinetwegen teilen wir uns auch den Salat. Es muss doch eine Koexistenz möglich sein. Leben und leben lassen. Für irgendwas sind sicher auch die Nacktschnecken gut, auch wenn sich der tiefere Sinn des Nacktschneckenseins uns Menschen noch nicht offenbarte.
Alle Schnecken hatten einmal Gehäuse. Das klingt wie: Alle Menschen werden friedlich geboren. Im Laufe der Evolution haben verschiedene Schneckengruppen effektivere Schutzmechanismen entwickelt, als sich ins eigene Häuschen zurückzuziehen. Das Gehäuse verschwand. Einige der nun nackten Schnecken enthalten Gifte, andere, vor allem die auf dem Land lebenden Schnecken (es gibt sie auch im Meer), verstecken sich einen Großteil ihres Lebens in der Erde – aha! – oder sie schützen sich durch die Absonderung von sehr viel Schleim, der den Feinden wenig schmeckt, oder, auch interessant, sie gleichen „die eventuellen hohen Individuenverluste, die sie wegen ihrer Fressfeinde erleiden, durch entsprechend viele Nachkommen wieder aus“ (wikipedia). Die Feinde sind demnach wir Humanen.
Die Evolution geht niemals rückwärts. Warum habe ich trotzdem jeden Tag, sobald ich Nachrichten lese und höre, den Eindruck, die Entwicklung der Menschheit verlaufe gerade retour, im Rückwärtsgang? Ich komme mir vor wie in dem südamerikanischen Film, von dem ich eingangs schrieb. Es regnet und regnet und zu viele der Protagonistinnen und Protagonisten der Gegenwart bewegen sich mit großer Selbstverständlichkeit Schritt für Schritt zurück, regredieren, eine zivilisatorische Errungenschaft nach der anderen abwerfend, lästigen Kleidungsstücken gleich. Die Gewalt nimmt zu (nicht nur gegen Kriechtiere), die Abstumpfung gegenüber der Gewalt auch. Unter dem Begriff Devolution ist die Aufgabe von Kulturelementen im Verlauf kultureller Wandlungsprozesse zu verstehen. Das ist die dunkle Seite der viel beschworenen Zeitenwende. Walter Benjamin sprach in seinen geschichtsphilosophischen Thesen, die er unter dem Eindruck der Hitlerzeit schrieb, von „serviler Einordnung in einen unkontrollierbaren Apparat“.
Können Schnecken rückwärts kriechen? Fragte Ian, 5 Jahre, im Westdeutschen Rundfunk die Maus. Gute Frage, Ian. Die Antwort lautet: „Schnecken können nicht rückwärts kriechen. Das liegt an der Art und Weise, wie sich die Muskeln im Fuß der Schnecke bewegen. Schnecken heben den Fuß hinten etwas an und setzen ihn ein Stück weiter vorne wieder auf. So entsteht eine wellenförmige Bewegung. Das lässt einen Rückwärtsgang nicht zu.“
Die Schnecken haben das Rückwärtskriechen nicht gelernt, weil es ihnen offenbar keinen evolutionären Vorteil bringt. Sie sind uns Zweifüßigen um ca. 530 Millionen Jahre Erfahrungswissen voraus. Nein, ich mag keine Schnecke zerschneiden, keine einzige.