Als ich in der Küche nach einer Rolle Frischhaltefolie griff, um einen Teller übrig gebliebener Semmelknödel kühlschrankgerecht mit Folie abzudecken, überkam mich plötzlich eine große Scham. Irgendetwas in mir, eine Art neues Über-Ich, hob tadelnd den Zeigefinger und gemahnte Plastikverzicht. Verdammt, wohin dann mit den Knödeln?! In die Tupperdose? Besitze ich nicht. Unters Bienenwachstuch? Hatte mal eines, fand es nach mehrmaliger Benutzung eklig. Überhaupt: Soll ich die die angebrochene Frischhaltefolienrolle unbenutzt wegschmeißen? Also Folie über die Knödel, schlechtes Gewissen. Und auch ein Anflug von Trotz. Aha, interessant, dachte ich. Dieses kleine kindliche Trotzgefühl, wo kommt das her?

Den folgenden Wortwechsel belauschte ich en passant vor einem Drogeriemarkt. Zwei ältere, sehr gepflegt aussehende Damen, die eine in den 80ern, die andere etwas jünger, ich vermutete Mutter und Tochter, steuerten auf ihren geparkten Wagen zu. Die Ältere: „Ein einziges junges Mädchen, wie heißt die… ?“ – „Greta“ – „macht die ganze Welt verrückt!“

Vor ein paar Wochen in Hamburg, Hafenrundfahrt. Unsere Barkasse schipperte an aufgetürmten Überseecontainern vorbei. 4 Cent, so erfuhren wir, kostet der Transport einer Jeans von China nach Hamburg. 10 Cent der Transport einer Flasche Wein aus Südafrika. Natürlich nicht als einzelne Stückware, sondern massenweise im Container. Der Transport einer Flasche Moselwein auf dem Landweg nach Hamburg kostet 30 Cent.

An einer anderen Stelle im Hafen wurden gebrauchte PKWs in den Bauch eines riesigen Frachtschiffs verladen, zum Transport nach Afrika. Alte Dieselfahrzeuge, Fahrzeuge mit abgelaufenem TÜV, Autos, die hierzulande keiner mehr haben will. Dreckschleuderexport.

Noch eine kurze Szene: Entscheidungskonflikt beim Kauf einer Packung Schokokekse im Supermarkt. Zwei fast identische Produkte stehen zur Wahl, beide habe ich in der Vergangenheit schon gekauft und beide schmecken gut. Die eine Packung enthält Biokekse, die andere Nicht-Biokekse. Vor geraumer Zeit bin ich ganz auf Biokekse umgestiegen. Jetzt liegen die zwei Kekssorten im Regal nebeneinander. Die Verpackung der Biokekse ist aus Plastik, die Nicht-Biokekse stecken in einer Hülle aus Papier. Welche kaufen? – Irgendwo hörte ich kürzlich den Begriff „Kabelbrand im Gehirn“.

Der Soziologe Norbert Elias beschrieb in seinem 1939 veröffentlichten Werk „Über den Prozess der Zivilisation“, wie sich Persönlichkeitsstrukturen und Sozialstrukturen in Westeuropa seit dem Mittelalter veränderten. Mit zunehmender Vergesellschaftung des Menschen, z.B. durch das Leben in Städten, entstanden immer mehr Abhängigkeiten, die wiederum beim Einzelnen zu einer Zunahme der Selbstkontrolle führten. Ein Kennzeichen davon sei das „Vorrücken der Schamschwelle“. Zwischen den spontanen Handlungsimpuls und die tatsächliche Ausführung einer Handlung tritt das Überdenken der Auswirkungen. Der emotionale Impuls wird zurückgehalten. Denn ob Schokokekse aus dem heimischen Supermarkt oder Jeans aus China, wir kommen nicht umhin, „daß sich aus allem Planen und Handeln der Menschen vieles ergibt, was kein Mensch bei seinem Handeln eigentlich beabsichtigt hat.“ (Norbert Elias)

Der Wissenschaftler XY sagt, so lese ich in der Zeitung, nicht der Plastikmüll sei das vordringliche Problem, wir sollten uns vielmehr darauf konzentrieren, den CO2-Ausstoß zu minimieren. Ein anderer Wissenschaftler meint, wenn wir alle noch wie in den 1970er Jahren konsumieren würden, wäre das mit der Umwelt kein Problem. Guter Gedanke! Aber das erkläre mal Leuten, die nach 1980 geboren sind. Wie sollen sich Menschen unter 50 beispielsweise vorstellen, dass es vor 46 Jahren schon einmal autofreie Sonntage gab mit Fahrverboten in ganz Deutschland? Auslöser war damals die sogenannte Ölkrise. Das Benzin war knapp, und der erste von vier autofreien Sonntagen fand am 25. November 1973 statt. Schön war das. Die Stadt war ruhig und leer. Als Kinder spielten und radelten wir mitten auf den sonst befahren Straßen. Die Mütter wirkten ungewöhnlich entspannt. Ein herrlicher Ausnahmezustand. Wäre toll, wenn sich das wiederholen ließe, #autofreiersonntagforfuture.