Wer einmal automobilisiert durch Frankreich reiste kennt ihn, den französischen Kreisverkehr. Man findet ihn hundertfach eingeknotet ins Netz der Nationalstraßen, kurz vor und kurz nach fast jeder größeren und kleineren Ortschaft. Durchmisst man das Land von Süd nach Nord, wie ich es kürzlich zusammen mit einem Freund auf der Heimfahrt von Spanien tat, verläuft die Fortbewegung nie nur linear – allenfalls auf der Autobahn, auf die wir, von der Küste kommend bei Montpellier abbogen, weil es zu lange dauerte, kreiseldrehend unsere Strecke zurück zu legen.
Verkehrstechnisch ist der Kreisverkehr eine kluge Erfindung. Er ersetzt die klassische Kreuzung, macht Ampeln überflüssig, beruhigt die Fahrenden und den Fluss des Verkehrs. Ortsfremden erlaubt der Kreisverkehr, eine zweite oder gar dritte Orientierungsrunde zu drehen, man kreist so lange, bis man sich für den richtigen Abzweig entscheidet. Es soll ja immer noch Leute geben, die ohne satellitengesteuertes Navigationsgerät die Welt befahren. Die Bewegung im Kreis hat etwas Besänftigendes, Befriedendes, Gefährt und Insassen beugen ihre Körper leicht in die Kurve, der Blick schwenkt um soundsoviel Grad, ein kurzer Anflug von Kinderspiel und Karussell, von Heiterkeit, Kompasswirbel und Schwindel, und wenn man nicht in rücksichtsvoller Weise auf andere Verkehrsteilnehmende achtet und im Flow bleibend einfädelt, kommt man aus dem Kreisverkehr nie mehr hinaus.
Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
ein kleines kaum begonnenes Profil –.
So verewigte Rainer Maria Rilke ein Kinderkarussell im Pariser Jardin du Luxembourg in seinem Gedicht „Das Karussell“. Tatsächlich war es auch in Paris, wo ich das erste Mal in meinem Leben bewusst im Kreisverkehr mehrfach kreiste. Meine beiden älteren Brüder und ich waren im Kleinwagen unserer Mutter für ein langes Wochenende nach Paris gekommen. Um Hotelkosten zu sparen fuhren wir über Nacht, sodass wir die französische Hauptstadt am frühen Morgen erreichten als sie gerade erwachte und die Augen aufschlug. Nur mein ältester Bruder besaß zu der Zeit den Führerschein. Erleichtert, dass er unser Ziel ohne Zwischenfall erreicht und von Euphorie beflügelt, in Paris – in Paris! – zu sein, umrundete mein sonst kaum zum Übermut neigender Bruder den Arc de Triomphe in einer zweiten und dritten Umkringelung, als wolle er den Reifenabrieb unseres Kleinwagens in den Asphalt der sagenhaften Stadt einschreiben. Alle drei fühlten wir uns ziemlich großartig und lachten glücklich triumphierend. Denn es war ja ein Triumph über die elterliche und überhaupt jedwede autoritäre Vernunft, so ohne Sinn und Zweck aus reiner Lust zu kreisen.
Daran denke ich nun, da ich vom französischen Kreisverkehr schreibe, und von den „Gelbwesten“, die ich vor Avignon am Rande eines Kreisverkehrs sitzen und stehen sah. Menschen in neongelben Warnschutzwesten (Warnschutzweste – was für ein Wort!). Wieviele von ihnen mögen es gewesen sein? Sechs oder sieben, aufgereiht auf einer schmalen Bank, ältere Männer. Dazu drei Frauen, die gerade damit beschäftigt schienen, aus Brettern irgendein Büdchen zu zimmern. Eine hatte einen Hammer in der Hand und drehte sich zu den auf der Bank sitzenden Männern um. Lachend, scherzend. Im Hintergrund bemerkte ich einen etwas größeren Holzverschlag. Möglicherweise der Rückzugsort bei schlechtem Wetter. Schon waren wir vorbei und drehten keine zweite Runde.
Was auf den handbemalten Plakattafeln im Inneren des Kreisrunds, um das wir fuhren, geschrieben stand, vermochte ich nicht zu lesen. Das war am Samstag, früher Nachmittag.
Am zweiten Tag unserer Heimreise, Sonntagmorgen kurz nach neun. Dass es Cafés und Bäckereien an Kreisverkehren gebe, wir also weder hungern, noch auf der Durchreise nach Kaffee dürsten müssten, davon hatte mein Freund, der die Strecke durch Frankreich schon einige Mal auf dem Motorrad bewältigt hatte, erzählt. Café nicht als kleines einladendes Liberté-toujours-Idyll am Wegesrand verstanden. Der Laden, den wir am Sonntagmorgen ansteuerten hatte vielmehr die Dimensionen eines amerikanischen Drive-Through Betriebs. Großer Parkplatz, hinfahren, rausspringen, Baguette holen, wegfahren. Kaffee nur aus Automaten.
Wir verzehrten labbrige Croissants, nippten Heißgetränke aus Pappbechern. Durch die Glasscheibe beobachtete ich zwei Männer, die draußen im Freien ihren Kaffee an Stehtischen tranken. Beide rauchten. Müde Gesichter. Sie rubbelten die Felder von Rubbellosen frei. Sichtbar erfolglos. Erst der eine, dann der andere. Sie verzogen keine Miene.
Und dann und wann ein weißer Elefant. (Rilke)
In der Nacht nach unserer Rückkehr brannte Notre-Dame.
Ich bin keine Frankreichkennerin. Mein Französisch hat den Stand von drei Jahren Schulfranzösisch unter der Ägide einer unsympathischen Französischlehrerin, die mir eine spätere Frankreichliebe wohl für immer verunmöglichte, nie überwunden. Leider. Doch der französische Kreisverkehr weckte mein Interesse an Frankreich zum ersten Mal nach langer Zeit. Irgendetwas geschieht dort am Kreisverkehr. Inmitten von Abgasnebeln, inmitten des Nebenher, des Beiläufigen, des Kurzdavor und des Kurzdanach, im Nirgendwo von Stadt und Land. Irgendetwas wird hier deutlich.
In deutschen Zeitungen und TV-Kommentaren hieß es, der Brand der Kathedrale in Paris, eines der Wahrzeichen der Grande Nation, würde Frankreich wieder vereinen. Subtext: Das von den Gelbwesten gespaltetene Frankreich. In Windeseile wurden Spendengelder in enormer Höhe von reichen Franzosen bereit gestellt, um den Wiederaufbau der Kirche, die unter staatlicher Verwaltung steht, zu finanzieren. – Viel hatte ich von Frankreich auf meiner Zweitagesreise zwar nicht gesehen, aber genug, um den Zeitungen und TV-Kommentatoren mein eigenes Bild entgegen zu setzen. Für die Menschen in gelben Westen bei Avignon und die Männer, die Sonntagfrüh ihre Lotterielose rubbeln in der Hoffnung auf endlich einmal eine Ausschüttung, ist Paris weit weg, denke ich. Ein treffenderes Wahrzeichen als die altehrwürdige Kathedrale, die geschichtsbeladene Ikone Notre Dame, schien mir der landauf landab endlos wiederkehrende Kreisverkehr zu sein, seine Gleichförmigkeit, seine Austauschbarkeit, sein dürftig begrüntes, absurd leeres Zentrum und die sterile Tristesse der Automatencafés; Wahrzeichen für den Zustand der Nation, wenn nicht sogar ganz Europas.
Was treibt die Menschen in neongelben Westen auf die Straße, an den Rand der Kreisverkehre? Wut, Unzufriedenheit, Empörung, der Ruf nach Geld? Das beschämende Gefühl, unselbstverschuldet den falschen Abzweig im Leben genommen zu haben? Oder doch vor allem Sehnsucht nach Gemeinsamkeit und danach, die eigene Arbeit und Zeit, das eigene Tun und den eigenen Verstand sinnvoll einbringen zu können, bei einer überzeugenden Sache mitzuwirken, die größer ist als man selbst?
Die ungelöste Frage der modernen, technisch hochgerüsteten Gesellschaften, in denen immer mehr Handgriffe und Dienstleistungen den Menschen aus den Händen genommen und Automaten, sogenannten künstlichen Intelligenzen anvertraut werden lautet: Was soll mit all der sinn- und funktionslos gewordenen natürlichen und menschlichen Intelligenz geschehen? Spiegelt sich dies im Bild des Kreisverkehrs wider? Eine traurig grüne Insel, ein blinder Raum, um den Fahrzeuge, Waren, Personen wie in einem Uhrwerk kreisen, gleichförmig heruntergedrosselt und perfekt organisiert, im Inneren aber Blindheit und Leere, kein Triumphbogen.