Man könnte den Begriff Flash Fiction als „aufleuchtende Dichtung“ übersetzen. Gemeint ist ein noch recht junges literarisches Genre, das seit Beginn der 1990er Jahre vor allem im anglo-amerikanischen Sprachraum unter diesem Namen bekannt wurde. Flash Fiction, ursprünglich die kleine Schwester der Short Story oder Kurzgeschichte, bezeichnet eine Erzählung von kürzester Länge. Der maximale Umfang wurde nie einheitlich festgelegt. Das englischsprachige Magazin Vestal Review, nach eigener Beschreibung „the oldest magazine of flash fiction“, setzt eine Länge von nicht mehr als 500 Wörtern als Limit. In anderen Fachartikeln zu dem Thema ist von 500 bis maximal 2000 Wörtern die Rede. Irgendetwas also zwischen einem Satz – Ernest Hemmingway verfasste einen six-word flash – und ungefähr drei Seiten.

Kurze fiktionale Prosa ist natürlich per se keine neue literarische Gattung. Schriftstellerinnen und Schriftsteller aller Jahrhunderte schrieben neben längeren Formaten auch kurze Stücke. Prosaminiaturen, Kürzestgeschichten, Mikrotexte; smoke-long stories, Erzählungen von der Lesedauer einer Zigarette. Charles Baudelaire nannte sein letztes Werk „Pariser Spleen/Le spleen de Paris“ im Untertitel: kleine Gedichte in Prosa. Italo Calvino komponierte ein ganzes Kompendium nur aus ein bis zweiseitigen „Stadtansichten“, sein Buch „Die unsichtbaren Städte/Le città invisibili“. In der deutschen Übersetzung wurde Calvinos Buch im Gegensatz zum Original als Roman betitelt. Genauso erging es Rainald Goetzs zuerst im Internet publizierter Textsammlung „Abfall für alle“. In der gedruckten Form wurde seine Flash Fiction ebenfalls in die Romanschublade gesteckt und als „Roman eines Jahres“ ausgegeben.

Weitere Autorinnen und Autoren, die ihre eigene unverwechselbare Kurzform des Erzählens fanden sind Robert Walser – seine auf zahllosen Zetteln notierten Textminiaturen erhielten die Bezeichnung Mikrogramme – Fernando Pessoa im „Buch der Unruhe“, Julio Cortazar, Friederike Mayröcker, Ror Wolf, Luis Borges, die im Libanon geborene Etel Adnan in „Jahreszeiten“, der Franzose Philippe Jaccottet wenn er keine Gedichte schreibt, Imre Kertesz „Galeerentagebuch“, ich möchte sogar Walter Benjamins „Einbahnstraße“ dazu zählen, um nur einige zu nennen, die bei mir an bevorzugter Stelle im Buchregal stehen.

Vielfalt auf engstem Raum

Die Bandbreite der kurzen Prosa ist groß, auch wenn vielleicht nur wenige Schreibende darin ihre Leidenschaft entdecken und ihre kürzeren Texte nicht nur als Nebenprodukt zur eigentlichen literarischen Produktion betrachten. Oder als „Abfall“ wie Rainald Goetz. Es verwundert daher wenig, dass sich bis heute keine einheitliche Genrebezeichnung für all diese Formen durchsetzen konnte. Sie feiern jedenfalls auf kleinem Raum die Vielfalt der Literatur.

Die Entwicklung des spezifischen Begriffs Flash Fiction steht mit dem Aufkommen des Internets und der digitalen Verbreitung von Texten in engem Zusammenhang. Zahlreiche Flash Texte wurden zuerst im World Wide Web veröffentlicht, viele nur dort, andere fanden erst später ihren Weg in gedruckte Bücher oder Magazine. Die Kürze der Texte korrespondiert mit der Beschaffenheit des digitalen Mediums. Zum einen lassen sich am Computerbildschirm Stories von begrenzter Länge leichter lesen, zum anderen verführt der Online-Modus dazu, schnell weiterzuklicken. Soziale Plattformen wie Facebook, Twitter, Instagramm trainieren im Grunde kognitives ADHS. Die Aufmerksamkeitsspanne der Leserinnen und Leser im digitalen Raum scheint mehr und mehr zusammenzuschnurren, und leider überträgt sich dieses Phänomen auch zunehmend auf die allgemeine Konzentrationsfähigkeit. Bei der Flash Literatur gilt es daher, die Wahrnehmung der Lesenden in einem funkelnden Augenblick zu fesseln und ihre Aufmerksamkeit einige Atemzüge lang zu fokussieren. Weitschweifigkeit, seitenlanges Monologisieren und Knausgårdsches Gelabere wären völlig fehl am Platz. Less is more, weniger ist mehr, könnte eine der Leitlinien der Flash Fiction lauten. Kein Wort zu viel und: Mut zur Lücke.

Flash Fictions sind in gewisser Weise wie Fotografien. Sie zeigen einen Ausschnitt von Welt, eine eng umrissene Momentaufnahme. Plot und handelnde Personen werden mehr skizziert als üppig ausgemalt und ausführlich beschrieben. Ein Ausschnitt steht hier für das Ganze. Flash Fiction setzt zudem auf das Zusammenspiel, auf den Dialog mit den Lesenden. Da vieles im Text nur angedeutet wird und fragmentarisch bleibt, sind die Lesenden gefordert, die Erzählung mit ihren eigenen inneren Bildern zu ergänzen, auszumalen, zu komplettieren. Die Geschichte selbst funktioniert als Trigger, und wenn es gut läuft, keimt sie gleich einem gelandeten Flugsamen in Zeitraffer und entfaltet ihre ganze Emotionalität und Projektionskraft in nur wenigen Sekunden. Weniger ist mehr und vermag gelegentlich auch nachhaltiger zu wirken.

Narrative aus der zerklüfteten Welt

Zu Beginn nannte ich Flash Fiction die kleine Schwester der Short Story. Dies gilt insbesondere für den anglo-amerikanischen Sprachraum, wo die Short Story eine stärkere Tradition als in der deutschsprachigen Literatur besitzt. Die Entstehungsgeschichte der klassischen amerikanischen Kurzgeschichte ging mit der Entwicklung des Zeitschriftenwesens im 19. Jahrhundert einher. Man denke an Autoren wie Edgar Allan Poe, F. Scott Fitzgerald, William Faulkner, Raymond Carver und den bereits erwähnten Ernest Hemmingway. Die englischsprachige Short Story orientiert sich an einem starken Plot und Spannungsbogen. Gleiches fordern amerikanische „How to write flash fiction“-Anleitungen auch für die flashigen Kürzestgeschichten. Eine solche solle „a beginning, a middle and end“ aufweisen und die Leserschaft möglichst „breathless“ aus der Story entlassen. Flash verstanden als Blitz, Fiktionen, die wie Blitze einschlagen.

Für Flash Fiction in deutscher Sprache schlage ich vor, sich von der anglo-amerikanischen Tradition zu lösen, die jeweiligen Sprachen folgen ohnehin ihren eigenen Grammatiken und Wegen. „Aufleuchtende Dichtung“ darf die Nähe zur Lyrik suchen, ebenso wie einen Handlungsstrang nur andeuten oder auf eine stringente Handlungsführung ganz verzichten. Um noch einmal den Vergleich mit der Fotografie zu ziehen: Ein Foto erzählt nicht immer eine Geschichte. Fotos beschwören Stimmungen, wecken subjektive Erinnerungen, lenken die Wahrnehmung und schärfen sie, laden zum Innehalten ein. Flash Fictions können Gedankenflüge sein, kurze Begegnungen ähnlich dem zufälligen Aufeinandertreffen und sich einen Augenblick lang Gegenüberstehen zweier Fremder im Gewühle einer großen Stadt.

Vom Friedensforscher Dieter Senghaas stammt der Ausdruck der „zerklüfteten Welt“ zur Charakterisierung der ständig sich neu formierenden Interdependenzen und Zerklüftungen in der heute real existierenden globalisierten Weltgemeinschaft. Flash Fictions haben das Potenzial, von diesen Zerklüftungen, Differenzierungen, Abhängigkeiten und Wechselwirkungen zu berichten, gerade weil sie die Darstellung eines umfassenden Weltengemäldes verweigern. Sie treffen den Nerv unserer nervösen Zeit damit vielleicht sogar eher als ein dickleibiger Roman, der sich anstrengt, Welt und Gesellschaft aus einer einheitlichen oder gar auktorialen Perspektive zu erfassen. Statt einem Universum viele Multiversen.