AUS BALKONIEN

Das Grab sei der kleinste Garten. Der kleinste Garten sei das Grab.
Der zweitkleinste Garten nach dem Grab, nein, vor dem Grab, wäre folglich der Balkon. Der Balkon ist gleichsam die zu Architektur gewordene Frage nach dem richtigen Leben im Falschen. Es war die Nachtigall, und nicht die Lerche. Der Balkon täuscht eine Freiheit vor, die an der Brüstung endet. Aber eine Freiheit immerhin. Ein Schritt nach Draußen. Eine frischere Luft. Ein Durchatmen, Aufatmen oder Einatmen und Inhalieren, ein Sich-Entziehen. Believe me, love, it was the nightingale. In der offenen Balkontür spiegelt sich die Weite des Himmels. Blasse Morgendämmerungen, verhangene Nachmittage, rosa hereinbrechende Abende, Nächte, die schwermütig und mondlos sind. Man sagt, der Lerche Harmonie sei süß. – Ach, ja. Das Geschrei der Vögel, der Gesang von Autorreifen unten auf dem Asphalt, die Stimmen der Nachbarn, die Lichter der Flugzeuge, der Qualm der Zigaretten, der Duft der Geranien, Fuchsien, Petunien, Rosmarine, Schnittläuche. Die vertraute Landschaft der Häuser gegenüber, die Peepshows der erleuchteten Küchenfenster, Wohnzimmerfenster, Badezimmerfenster. Schattenspiele hinter Gardinen, Schemen fremder Existenzen. Mit großer Anhänglichkeit schmiegt sich der Balkon an das menschliche Zuhause an. Ein halber Wohnraum, ein halbes Versprechen, ein halbes Paradies. Das romantische Aperçu des sozialen Wohnungsbaus. Nichts Falsches, nichts Richtiges, nichts Ganzes. Zu klein, um ein ausgewachsener Garten zu sein. Zu groß für einen Trauerfall. Ein Bonsaigärtchen. Ein Träumchen, ein Sehnsüchtchen. More light and light, – more dark and dark our woes! / Stets heller – und stets dunkler unsre Leiden. Ein Schauplätzchen en miniature.

 

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