aus: MEINE UNGESCHRIEBENEN ROMANE

Und gelegentlich verliebte er sich für ein paar Stunden in eine andere Person. Zum Beispiel im Zug nach H. Er saß auf keinem Fensterplatz, sondern am Gang. Auf der anderen Seite des Zugabteilgangs, zwei Stuhlreihen weiter, saß ihm jemand gegenüber. Er saß in Fahrtrichtung und der andere entgegen. Die Fahrt dauerte sechs Stunden. Es war unvermeidlich, dass ihre Blicke sich trafen. Irgendwohin mussten sie schließlich schauen.
Erst sahen sie sich beiläufig an. Dann musterten sie sich heimlich. Dann las er ein Buch. Dann ging er aufs Klo. Dann aß der andere eine belegte Semmel. Dann versuchten sie, woanders hinzuschauen. Aber da war es vermutlich schon zu spät, da war dem einen der andere schon unter die Netzhaut gekrochen. Wie er so schaute, und wie er so da saß in seinem Sessel, und wie er seine Semmel aß, langsam und mit Behagen, und wie er versuchte, die Beine übereinander zu schlagen, sie dann doch lümmelnd ausstreckte, weil der Sitzplatz zu eng war, um lange Beine übereinander zu schlagen. Der andere hatte ein nettes Gesicht. Er strahlte etwas Positives aus.
Ihre Blicke glitten behutsam aneinander vorbei, damit sie sich nicht zu oft trafen. Sechs Stunden sind eine lange Zeit. Man lernt sich kennen, auch ohne dass ein Wort gewechselt wird. Man spürt den anderen in seiner Gegenwart auf.
Er las in seinem Buch, der gegenüber blätterte in einem Magazin. Der eine hob den Kopf. Mag sein, dass der andere errötete. Mag sein, dass der Lidschlag des einen zu zittern begann. Sie befanden sich bereits allein auf der Welt. Nur diese beiden, nur er und der andere, nur ihre gegenläufig parallelen Phantasien.

Und plötzlich hieß es: Nächster Halt! Und: Haben Sie nichts vergessen?
Sie erinnerten sich daran, notgedrungen und ein wenig irritiert, woher sie kamen, wohin sie unterwegs gewesen waren. Sie brachten ihre Sachen in Ordnung, zogen die Reißverschlüsse der Jacken zögernd in Richtung Halskuhle, machten sich bereit für den bevorstehenden Ausstieg, für den Abschied, für das Nimmerwiedersehen.
Wer wären sie geworden in den Umarmungen des anderen? Welche überraschenden Entdeckungen hätten sie von sich im Beisein des perfekten Fremden gemacht?
Ein leises hydraulisches Schnaufen kündigte das Öffnen der Zugtüren an. Vom Bahnsteig her wehte den Aussteigenden warme Sommerluft entgegen. Sein Abholer wartete schon am oberen Ende der Rolltreppe.
Er vermisste den Mitfahrer aus dem Zug und dessen nettes Gesicht eine Rolltreppenfahrt lang sehnsüchtig. Eine Rolltreppenfahrt lang war er traurig und hoffte, der andere würde ihm hinterher eilen, ihn einholen und an sich ziehen, ihm sein und ihrer beider Begehren erklären. Was würde nun aus der gemeinsamen ungelebten Zukunft werden?
Am oberen Ende der Rolltreppe tauchte, unendlich vertraut, ein Winken und Lachen auf. Die letzte Stufe wurde ratternd vom Rolltreppenschlund verschluckt. Ein Schritt hinüber – er war geborgen, umarmt, empfangen, zuhaus.

 

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