Das Wilde, wurde behauptet, müsse gezähmt werden, wilde Frauen, Hexen, wilde Tiere, Menschen dunklerer Hautschattierungen als weiß. Macht euch die wilde Erde untertan! Wild, so wurde gesagt, sei das Kind, das sich nicht füge und nicht gehorche. Wild sei die Ehe, die nicht vor Staat und Kirche geschlossen wurde. Wild seien Lebewesen, die den Maßstäben westlicher Zivilisation nicht entsprächen. Illegale. Überhaupt sei das Wilde eine Verneinung von Zivilisation, von Kultur, und wild ein Wort etymologisch unsicherer Herkunft. Aus dem Wald stammend eventuell, so der Duden. Urwaldkreatur, unkontrollierbar und gefährlich. Das unberechenbare triebhafte Andere. 777 Synonyme kennt das Internet für wild. Von anarchisch, bestialisch, chaotisch, exzessiv, enthemmt und lüstern bis rammelig, reißend, störrisch, zottelig und wüst. Indem etwas zum Wild erklärt wird, ist es für den Abschuss freigegeben.
Ich meine andere Wildnisse.
Gänseblümchen, Regenwürmer, insektenbestäubte Obstbaumblüten, ich meine die Luft, die wir atmen, Blattgrün, Sonnenlicht, all die gütigen und gerechten Wildnisse, die unserem Leben auf dem Planeten seinen unverwechselbaren Glanz verleihen. Ich meine das wilde große Ganze.
Den wilden Stern, der vor Millionen Jahren erlosch und trotzdem vor unseren Augen noch glüht. Den wilden Himmel voll seiner ungezähmten Wolkenherden, das Meer und seine unbestechlichen Gezeiten, die Flüsse, die Wellen, den wilden Wind, und bei Flaute wohltuend erfüllte Stille.
Die Löwenzähne und den wilden Klee, die Lilien auf dem Feld, die Kräuter und Moose in den Ritzen aufplatzender Bürgersteige. Auch Bäume und Büsche, die keiner pflanzte und Vögel, denen niemand das Singen lehrte.
Ich meine Weberknechte, Stubenfliegen, Zitronenfalter, Asseln und Ameisen, auch die faulen Ameisen, die wildesten von allen, weil von der Wissenschaft der Menschen am wenigsten erforscht.
Wild ist es, wenn Dinge sich wiederholen, immer und immer wieder, nie auf dieselbe Weise. Zyklen und Kreisstrukturen. Wild ist das Gleichgewicht, das wir täglich (und nächtlich) verlieren, jene Ausgeglichenheit, die wir ersehnen. Etwas, das gegeben wurde, ohne dass jemand nach einer Gegenleistung fragt.
Wild und wunderbar ist es eine Bach Klavierpartita anzuhören, gespielt von Glenn Gould.
Wild ist es geboren zu werden, ziemlich wild sogar! Und noch viel wilder das Sterben. Jeder Akt von Zeugung und Hervorbringung, auch der Tod ist ein Akt der Schöpfung. Wild ist, was seine vorbildlose Schönheit nicht in Frage stellt, sein ungeschminktes Anderssein, seine Zerzaustheit, seine Einmaligkeit, wild ist was nicht zweifelt an der eigenen, zuweilen komischen unperfekten Existenz. Auch echte Wut ist wild und gut. Wie die Gedanken, von denen man meint, man dürfe sie gar nicht denken, gleiches gilt für Gefühle, für Beziehungen, von denen man annimmt, sie seien unmöglich, und doch geht man sie ein.
Wild ist die Vorstellungskraft des menschlichen Geistes, das kreative Denken, die unromantische Liebe (die romantische Liebe scheint mir bereits gezähmt).
Wild, die Resonanzen der Welt auf meinen Leib. Mein Körper, meine Träume. Meine wilden sechs Geschlechter. Der Sopran, der Mezzosopran, der Alt, der Bariton, der Tenor und der Bass meiner Stimmen, wenn wir zusammen unter der Dusche singen. Wild mein inneres Frauenhaus, mein Rat der Weisen, meine Lust mit den anderen Kindern, egal welchen Alters, zu spielen. Wild ist, was sich niemals gleicht, selbst wenn es in ähnlichem Gewand erscheint. Das Miteinander von sehr, sehr Vielen und Vielem, subtile Ordnungen, manchmal der Straßenverkehr.
Wild ist, was sich verändert im Prozess der Erneuerung. Vergänglichkeit als Nährboden zauberhafter Synthesen. Wild sind die Kräfte der Selbstheilung. Wild ist stets mehr als nur dies und nur das, nur schwarz und nur weiß, nur Mann und nur Frau, nur alt und nur jung. Wild sind die Lösungen unserer Probleme, die wir im gemeinsamen Aushandeln erfinden. Wilde ungeahnte Zusammenhänge, wilde Verbindungen, Wechselwirkungen, Utopien wilden Friedens. Jede Art von aufrichtiger Zuneigung – und meine wilde Prosa.