REISE NACH MONOPOLI

„Siamo in Italia, finalemente!“ – Der Zug hatte den Brenner überquert. Die italienischen Laute unserer Mitreisenden erfreuten mein Ohr. Die Mutter sagte zur Tochter am Ende ihrer Sätze „Amore“. Liebe. Sie sagt auch zu allen anderen, mit denen sie im Lauf der Fahrt telefonierte Amore. So reiste sie in einer Wolke der Liebe heim in die ewige Stadt Rom.

Kaffee mit Milch und Süßstoff, Piccolosekt, hartgekochte Eier, Frikadellen, Brötchen, Käse und eine riesige Tube Senf. Unsere Sitznachbarinnen packten aus. Es gibt Menschen, die können sich überall zuhause machen, an jedem Plätzchen Erde können sie essen und schlafen, selbst im Großraumwagen eines vollbesetzten Schnellzuges. Sie breiten ihre Siebensachen um sich herum aus und ignorieren großmütig die öffentliche Umgebung ihrer so etablierten Wohnstube. Es muss Nomadenblut in ihren Adern fließen. Sie sitzen eigentlich am wärmenden Feuer in einer unsichtbaren Jurte. Und würden wir anderen anklopfen, würden sie uns ohne Weiteres Einlass gewähren und ein Auge des geschlachteten Hammels mit uns teilen.

Eine Frau war in ihrem Daunenmantel gefangen. Während die übrigen Reisenden in T-Shirts und mit aufgekrempelten Blusen- und Hemdsärmeln dem Süden und seinen milderen Temperaturen entgegenfuhren, lehnte die Frau als schwarzes Michelinmännchen lächelnd und schwitzend im Zugsessel. Ihre Gesichtshaut glänzte unter der Schminke. Der Reißverschluss des Mantels hatte sich unglücklich verhakt, erst kurz vor Verona konnte die Frau befreit werden.

„Il mare…“

Der Zug fährt stundenlang am Meer entlang. Das trübe Oktoberwetter macht schläfrig. Mir fallen nur Worte ein und keine Sätze. Morbidezza (für die verlassenen Strandbäder), stille Giganten (für die riesigen Lastkähne aus Stahl, die bewegungslos vor dem fernen Horizont im Wasser liegen), et la nave va… Pesaro. Ancona. Pescara.

Halb Himmel, halb Meer, halb graublau, halb blaugrau. Keine Sonne, keine Menschen, und vorne ein weißer Saum aus Sand und Schaum.

Wir buchen stets in der Nachsaison unseren Urlaub, wenn das Spektakel bereits vorüber ist. Wir suchen die Orte gewesener Feste auf wie verlassene Schlachtfelder, wenn die Toten längst weggeräumt und die Feuer niedergebrannt sind. 
Was suchen wir? Ruhe? Hoffnung? Preisnachlass?
Was suchen wir? 
Die Wahrheit in einem Gesicht, das ohne Schminke ist? Die Leere des undekorierten Raums? Den totalen Zustand der Erschöpfung? Den Zauber des Glanzes, den nur das tieferstehende Licht des Herbstes auf Menschen, Landschaften, Gegenstände zu werfen vermag?

Schließlich verlässt die Zugstrecke das Meer. Die Gegend ist eben. Wein und Oliven. Wenig Lieblichkeit, was sicher am Regenwetter liegt. Oder an den schäbigen Behausungen und fehlenden Geranien.

Das statuarische italienische Ehepaar auf den Sitzen uns gegenüber: Auch die waren einmal jung, auch die haben einmal getanzt. Erst kurz vor Bari – ihrem Heimathafen – wurden sie wieder lebendig und wir staunten, wie viel sie sich zu sagen hatten von dem wir nichts verstanden.

 

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